Ginas Gesichtsausdruck blieb misstrauisch. Sie bewegte ihren Fuß klopfend auf und ab. „Was ist mit dem Gemälde?“
Vor ihrem geistigen Auge stellte sich Lacey das Ölgemälde eines Segelbootes vor, das Xavier ihr erst letzte Woche geschickt hatte. Sie hatte es über dem Kamin in ihrem Wohnzimmer in Crag Cottage aufgehängt.
„Solche Boote hat sein Ururgroßvater befehligt“, verteidigte sie sich weiter. „Xavier fand es auf einem Flohmarkt und dachte, es könnte mir gefallen.“ Sie zuckte lässig die Achseln und versuchte, es herunterzuspielen.
„Aha“, grunzte Gina, ihre Lippen zusammengepresst. „Er hat es gesehen und an dich gedacht. Du weißt, wie das für einen Außenstehenden aussieht …“
Lacey war verärgert. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. „Worauf auch immer du anspielst, warum sagst du es nicht einfach?“
„Also gut“, antwortete ihre Freundin mutig. „Ich glaube, an Xaviers Geschenken ist mehr dran, als du bereit bist zu akzeptieren. Ich glaube, er mag dich.“
Obwohl Lacey geahnt hatte, dass ihre Freundin das sagen würde, fühlte sie sich dennoch etwas gekränkt, als sie die Worte aussprach.
„Ich bin vollkommen glücklich mit Tom“, argumentierte sie, vor ihrem inneren Auge tauchte der wunderschöne, breit lächelnde Bäcker herauf, den sie das Glück hatte ihren Liebhaber zu nennen. „Xavier versucht nur zu helfen. Das hat er versprochen, als ich ihm den Sextanten seines Urgroßvaters geschenkt habe. Du erfindest gerade ein Drama, wo keines ist.“
„Wenn es kein Drama gibt“, antwortete Gina ruhig, „warum versteckst du dann Xaviers Paket im untersten Regal des Lagerschrankes?“
Lacey zuckte zusammen. Ginas Anschuldigungen hatten sie überrumpelt und verwirrt. Einen Moment lang vergaß sie den Grund, warum sie das Paket nach der Unterschrift für die Lieferung weggelegt hatte, anstatt es gleich zu öffnen. Dann erinnerte sie sich; der Papierkram hatte sich verzögert. Xavier hatte behauptet, dass sie eine Begleitbescheinigung würde unterschreiben müssen, also hatte sie sich dazu entschieden, das Paket vorläufig zu verstauen für den Fall, dass sie versehentlich gegen irgendein britisches Gesetz verstieß, das sie noch nicht kannte. So viel wie die Polizei in ihrem Laden herumgeschnüffelt hatte, konnte sie nicht vorsichtig genug sein!
„Ich verstecke es nicht“, sagte Lacey. „Ich warte darauf, dass die Bescheinigung eintrifft.“
„Du weißt nicht, was drin ist?“, fragte Gina. „Xavier hat dir nicht gesagt, was es ist?“
Lacey schüttelte den Kopf.
„Und du hast nicht gefragt?“, hakte sie nach.
Wieder schüttelte Lacey den Kopf.
Da bemerkte sie, dass der anklagende Ausdruck in Ginas Augen zu verblassen begann. Stattdessen wurde er von Neugierde abgelöst.
„Glaubst du, es könnte etwas …“, Gina senkte ihre Stimme, „… Illegales sein?“
Obwohl sie sich sicher war, dass Xavier ihr keinen illegalen Artikel geschickt hatte, war Lacey mehr als glücklich, das Thema von seinem Geschenk abzulenken, also stieg sie darauf ein.
„Könnte sein“, sagte sie.
Ginas Augen weiteten sich weiter. „Was könnte es sein?“, fragte sie und klang wie ein eingeschüchtertes Kind.
„Elfenbein vielleicht“, sagte Lacey zu ihr und erinnerte sich an Wissen aus ihrem Studium über Gegenstände, deren Verkauf im Vereinigten Königreich illegal war, ob es sich nun um Antiquitäten oder andere Gegenstände handelte. „Alles, was aus dem Fell einer vom Aussterben bedrohten Tierart hergestellt wird. Polstermöbel, die aus nicht feuerhemmenden Stoffen hergestellt werden. Oder Waffen …“
Jede Art von Vorwurf oder Misstrauen verschwand nun völlig von Ginas Gesichts; das „Drama“ um Xavier war im Handumdrehen vergessen, dank der weitaus aufregenderen Möglichkeit, dass sich in der Kiste eine Waffe befinden könnte.
„Eine Waffe?“, wiederholte Gina mit einem Quietschen in ihrer Stimme. „Können wir es nicht öffnen und nachsehen?“
Sie sah so aufgeregt aus wie ein Kind am Weihnachtsabend.
Lacey zögerte. Sie hatte sich darauf gefreut, in das Päckchen zu sehen, seit es per Sonderkurier angekommen war. Es musste Xavier ein Vermögen gekostet haben, es den ganzen Weg von Spanien herzuschicken, und auch die Verpackung war aufwendig; der dicke Karton war so stabil wie Holz, und das ganze Ding war mit Heftklammern in Industriegröße befestigt und mit Kabelbinder zusammengebunden. Was immer sich darin befand, war offensichtlich sehr wertvoll.
„Okay“, sagte Lacey und fühlte sich rebellisch. „Welchen Schaden kann ein kleiner Blick darauf schon anrichten?“
Sie strich eine widerspenstige Strähne aus ihrem dunklen Pony hinter ihr Ohr und holte den Kartonschneider. Sie benutzte ihn, um die Kabelbinder zu durchtrennen und die Heftklammern zu entfernen. Dann öffnete sie den Karton und arbeitete sich durch die Styroporverpackung.
„Es ist eine Kiste“, sagte sie, zerrte an dem Ledergriff und hob einen schweren Holzkoffer heraus. Überall flatterten Styroporstücke umher.
„Sieht aus wie die Aktentasche eines Spions“, sagte Gina. „Oh, du glaubst doch nicht, dass dein Vater ein Spion war, oder? Vielleicht ein russischer!“
Lacey verdrehte ihre Augen, als sie den schweren Koffer auf den Boden stellte. „Ich habe vielleicht im Laufe der Jahre viele seltsame Theorien über das, was mit meinem Vater passiert ist, aufgestellt“, sagte sie und klickte einen nach dem anderen die Verschlüsse des Koffers auf. „Aber russischer Spion war nie dabei.“
Sie schob den Deckel hoch und schaute in den Koffer. Sie keuchte beim Anblick dessen, was er enthielt. Ein wunderschönes antikes Steinschloss-Jagdgewehr.
Gina begann zu husten. Sie klang, als würde sie vor Aufregung halb ersticken. „Du kannst das Ding nicht hier drin haben! Meine Güte, wahrscheinlich dürfte sie sich nicht mal hier in England befinden! Was in aller Welt hat Xavier sich dabei gedacht, dir so etwas zu schicken?“
Aber Lacey hörte dem Ausbruch ihrer Freundin nicht zu. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Gewehr fixiert. Es war in ausgezeichnetem Zustand, obwohl es weit über hundert Jahre alt sein musste.
Vorsichtig nahm Lacey es aus dem Koffer und spürte sein Gewicht in ihren Händen. Es hatte etwas Vertrautes an sich. Aber sie hatte noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt, geschweige denn eines abgefeuert, und trotz des seltsamen Déjà-vus hatte sie keine konkreten Erinnerungen, die mit so einem Gewehr in Verbindung standen.
Gina fing an, mit den Händen zu fuchteln. „Lacey, leg es zurück! Leg es zurück! Es tut mir leid, dass ich dich gezwungen habe, es herauszunehmen. Ich dachte nicht wirklich, dass es eine Waffe sein würde.“
„Gina, beruhige dich“, sagte Lacey zu ihr.
Aber ihre Freundin war jetzt vollends außer sich. „Du brauchst einen Waffenschein! Es könnte sogar eine Straftat sein, sie überhaupt zu besitzen! Wir sind hier nicht in den USA!“
Ginas Quietschen schien ihren Höhepunkt zu erreichen, aber Lacey antwortete nicht. Wenn sei eines von ihren Panikausbrüchen gelernt hatte, war es, dass man Gina nicht mit Worten beruhigen konnte. Irgendwann würde sie sich von selbst beruhigen. Entweder das, oder sie würde vor Erschöpfung umkippen.
Außerdem war Laceys Aufmerksamkeit zu sehr auf das schöne Gewehr gerichtet, um ihr weiter Beachtung zu schenken. Sie war gebannt von dem seltsamen Gefühl der Vertrautheit, das es in ihr geweckt hatte.
Sie blickte den Lauf hinunter und spürte sein Gewicht. Seine Form in ihren Händen. Sogar seinen Geruch. Das Gewehr hatte einfach etwas Wunderbares an sich, als ob es schon immer ihr gehören sollte.
In diesem Moment wurde Lacey sich der Stille bewusst. Gina hatte endlich aufgehört zu zetern. Lacey blickte zu ihr auf.