Wir denken alle drei das gleiche: selbst wenn er gesund würde, könnte er nur einen gebrauchen, sie wären für ihn also wertlos. Aber wie es jetzt steht, ist es ein Jammer, dass sie hierbleiben; denn die Sanitäter werden sie natürlich sofort wegschnappen, wenn er tot ist.
Müller wiederholt: »Willst du sie nicht hier lassen?«
Kemmerich will nicht. Es sind seine besten Stücke.
»Wir können sie ja umtauschen«, schlägt Müller wieder vor, »hier draußen kann man so was brauchen.« Doch Kemmerich ist nicht zu bewegen.
Ich trete Müller auf den Fuß; er legt die schönen Stiefel zögernd wieder unter das Bett.
Wir reden noch einiges und verabschieden uns dann. »Machs gut, Franz.«
Ich verspreche ihm, morgen wiederzukommen. Müller redet ebenfalls davon; er denkt an die Schnürschuhe und will deshalb auf dem Posten sein.
Kemmerich stöhnt. Er hat Fieber. Wir halten draußen einen Sanitäter an und reden ihm zu, Kemmerich eine Spritze zu geben.
Er lehnt ab. »Wenn wir jedem Morphium geben wollten, müssten wir Fässer voll haben «
»Du bedienst wohl nur Offiziere«, sagt Kropp gehässig.
Rasch lege ich mich ins Mittel und gebe dem Sanitäter zunächst mal eine Zigarette. Er nimmt sie. Dann frage ich: »Darfst du denn überhaupt eine machen?«
Er ist beleidigt. »Wenn ihrs nicht glaubt, was fragt ihr mich «
Ich drücke ihm noch ein paar Zigaretten in die Hand. »Tu uns den Gefallen «
»Na, schön«, sagt er. Kropp geht mit hinein, er traut ihm nicht und will zusehen. Wir warten draußen.
Müller fängt wieder von den Stiefeln an.» Sie würden mir tadellos passen. In diesen Kähnen laufe ich mir Blasen über Blasen. Glaubst du, dass er durchhält bis morgen nach dem Dienst? Wenn er nachts abgeht, haben wir die Stiefel gesehen «
Albert kommt zurück. »Meint ihr ?« fragt er.
»Erledigt«, sagt Müller abschließend.
Wir gehen zu unsern Baracken zurück. Ich denke an den Brief, den ich morgen schreiben muss an Kemmerichs Mutter. Mich friert. Ich möchte einen Schnaps trinken. Müller rupft Gräser aus und kaut daran. Plötzlich wirft der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum, sieht sich um, mit einem aufgelösten und verstörten Gesicht, und stammelt: »Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße.«
Wir gehen weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen das, es ist der Frontkoller*, jeder hat ihn mal. Müller fragt ihn: »Was hat dir der Kantorek eigentlich geschrieben?«
Er lacht: »Wir wären die eiserne Jugend.«
Wir lachen alle drei ärgerlich. Kropp schimpft; er ist froh, dass er reden kann.
Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne Jugend. Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung? Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.
Aufgaben zum Text
1. Wie verstehen Sie den Vorspruch zum Roman? Was nehmen Sie an, worum geht es im Roman?
2. Beschreiben Sie die neuen Freunde.
3. Wofür freueten sich die Freunde? Und warum war der Furier erschlagen?
4. Beschreiben Sie die Natur und das Wetter an jenem Tag. Welche Rolle spielt hier die Naturbeschreibung?
5. Was erfahren Sie über Kantorek?
6. Wer ist Behm? Warum wird sein Tod so ausführlich geschildert?
7. Wie hat der Krieg die Weltanschauung der achtzehnjährigen Jungen geändert?
8. Wie glauben Sie, warum nennen sich die Achtzehnjährigen alte Leute?
9. Warum ist im Roman die Episode mit Kemmerichs Stiefeln so ausführlich geschildert?
Texterläuterungen
Küchenbulle, der jemand, der das Essen für die Soldaten ausgibt, Koch
Gulaschkanone, die scherzhaft für die Küche
langen etwas ist in genügendem Maß vorhanden; etwas reicht aus, genügt
splendid freigebig
Furier, der der für die Verpflegung und Unterkunft sorgende Unteroffizier
Quantum, das die Menge von etwas, die angemessen ist
Langrohr, das Langrohrartellerie
dicke Brocken großkalibrige Geschosse
Gefreite, der ein Soldat mit dem zweitniedrigsten Rang
Puff, das / der (gesprochen) Bordell
Wanze, die ein flaches Insekt, das Pflanzensäfte oder das Blut von Menschen und Tieren saugt
Kommiss, der (veraltend, gesprochen, pejorativ) Militär(dienst)
Schwein haben (gespr.) Glück, das man nicht verdient hat
Kleinholz geben prügeln
Speckjäger, der Schimpfwort
platzen etwas platzt: etwas geht plötzlich (oft mit einem Knall) kaputt, meist weil der Druck im Inneren zu stark geworden ist
Latrine, die eine Toilette im Freien, bei der die Exkremente in eine Grube fallen
Verdauung, die das Verdauen der Nahrung (verdauen die Nahrung im Magen und im Darm auflösen, so dass der Körper sie aufnehmen kann)
entrüsten sich über etwas sehr ärgern (und diesen Ärger auch zeigen)
Flack, die Kurzform für die Flugzeugabwehrkanone
Garbe, die mehrere Schüsse (aus einer automatischen Schusswaffe), die rasch aufeinander folgen
Skat, der das beliebteste deutsche Kartenspiel für drei Personen
Nullouvert, der Null uffs Ferd, eine bestimmte Kombination von Karten beim Skatspiel (offenes Nullspiel)
Schieberamsch, der eine inoffizielle Variante des Kartenspiels Skat
Schinder, der jemand, der ein Tier quält, besonders indem man es sehr hart arbeiten lässt
parat so, dass man es (zur Hand) hat, wenn man es braucht; (griff)bereit
großer Betrieb die Aktivitäten und Arbeiten, die an einer Stelle oder in einer Institution ablaufen
Eiter, der eine dicke, gelbliche Flüssigkeit, die in infizierten Wunden entsteht
flau sein jemandem ist flau: jemand fühlt sich nicht wohl, ihm ist ein wenig übel oder schwindlig
Trichter, der ein großes Loch im Erdboden, das durch die Explosion einer Bombe entstanden ist
Tornister, der ein flaches Gepäckstück, das meist Soldaten auf dem Rücken tragen
Plattfuß, der ein Fuß, bei dem die ganze Sohle den Boden berührt, wenn man geht
Koller, der Wutanfall, Wutausbruch
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Es ist für mich sonderbar, daran zu denken, dass zu Hause, in einer Schreibtischlade, ein angefangenes Drama »Saul*« und ein Stoß* Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich darüber verbracht, wir haben ja fast alle so etwas Ähnliches gemacht; aber es ist mir so unwirklich geworden, dass ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann.
Seit wir hier sind, ist unser früheres Leben abgeschnitten, ohne dass wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, einen Überblick und eine Erklärung dafür zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade für uns Zwanzigjährige ist alles besonders unklar, für Kropp, Müller, Leer, mich, für uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind, dass der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjährigen aber haben nur unsere Eltern und manche ein Mädchen. Das ist nicht viel denn in unserm Alter ist die Kraft der Eltern am schwächsten, und die Mädchen sind noch nicht beherrschend. Außer diesem gab es ja bei uns nicht viel anderes mehr; etwas Schwärmertum*, einige Liebhabereien* und die Schule; weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben.