Freilich abends, da setzt sich der graue Zwerg Heimweh3 an die Betten im Schlafsaal, zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichts die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die ungeweinten.
Aber am Morgen ist er verschwunden! Dann klappern die Milchtassen, dann plappern die kleinen Mäuler wieder um die Wette4. Dann rennen wieder die Bademätze rudelweise in den kühlen, flaschengrünen See hinein, planschen, kreischen, schwimmen oder tun doch wenigstens, als schwömmen sie.5
So ists auch in Seebühl am Bühlsee, wo die Geschichte anfängt, die ich euch erzählen will. Eine etwas verzwickte Geschichte. Und ihr werdet manchmal sehr gut aufpassen müssen, damit ihr alles haargenau versteht. Zu Beginn geht es allerdings noch ganz gemütlich zu.6 Verwickelt wirds erst in den späteren Kapiteln. Verwickelt und ziemlich spannend.
Vorläufig7 baden sie alle im See, und am wildesten treibt es8, wie immer, ein kleines neunjähriges Mädchen, das den Kopf voller Locken und Einfälle hat und Luise heißt, Luise Palfy. Aus Wien.
Da ertönt vom Hause her ein Gongschlag. Noch einer und ein dritter. Die Kinder und die Helferinnen, die noch baden, klettern ans Ufer.
Der Gong gilt für alle!9, ruft Fräulein Ulrike. Sogar für Luise!
Ich komm ja schon!, schreit Luise. Und dann kommt sie tatsächlich.
Fräulein Ulrike treibt ihre schnatternde Herde vollzählig in den Stall, ach nein, ins Haus. Zwölf Uhr wird zu Mittag gegessen. Und dann wird neugierig auf den Nachmittag gewartet. Warum?
Am Nachmittag werden zwanzig Neue erwartet. Zwanzig kleine Mädchen aus Süddeutschland. Werden ein paar Zieraffen dabei sein? Ein paar Klatschbasen? Womöglich uralte Damen von dreizehn oder gar vierzehn Jahren? Werden sie interessante Spielsachen mitbringen? Hoffentlich ist ein großer Gummiball drunter! Trudes Ball hat keine Luft mehr. Und Brigitte rückt ihren nicht heraus. Sie hat ihn im Schrank eingeschlossen. Ganz fest. Damit ihm nichts passiert. Das gibts auch.
Nun, am Nachmittag stehen also Luise, Trude, Brigitte und die anderen Kinder an dem großen, weit geöffneten eisernen Tor und warten gespannt auf den Autobus, der die Neuen von der nächsten Bahnstation abholen soll. Wenn der Zug pünktlich eingetroffen ist, müssten sie eigentlich
Da hupt es!Sie kommen! Der Omnibus rollt die Straße entlang, biegt vorsichtig in die Einfahrt und hält. Der Chauffeur steigt aus und hebt10 fleißig ein kleines Mädchen nach dem anderen aus dem Wagen. Doch nicht nur Mädchen, sondern auch Koffer und Taschen und Puppen und Körbe und Tüten und Stoffhunde und Roller und Schirmchen und Thermosflaschen und Regenmäntel und Rucksäcke und gerollte Wolldecken und Bilderbücher und Schmetterlingsnetze, eine kunterbunte Fracht.
Zum Schluss taucht, mit seinen Habseligkeiten, im Rahmen der Wagentür das zwanzigste kleine Mädchen auf. Der Chauffeur streckt bereitwillig die Arme hoch.
Die Kleine schüttelt den Kopf.Danke, nein!, sagt sie höflich und klettert, ruhig und sicher, das Trittbrett herab. Unten blickt sie verlegen lächelnd in die Runde. Plötzlich macht sie große, erstaunte Augen. Sie starrt Luise an! Nun reißt auch Luise die Augen auf. Erschrocken blickt sie der Neuen ins Gesicht!
Die anderen Kinder und Fräulein Ulrike schauen erstaunt von einer zur anderen. Der Chauffeur schiebt die Mütze nach hinten, kratzt sich am Kopf und kriegt den Mund nicht wieder zu11. Weswegen denn?
Luise und die Neue sehen einander zum Verwechseln ähnlich!12 Zwar, eine hat lange Locken und die andere streng geflochtene Zöpfe aber das ist auch wirklich der einzige Unterschied!
Da dreht sich Luise um und rennt, als werde sie von Löwen und Tigern verfolgt13, in den Garten.
Luise!, ruft Fräulein Ulrike. Luise! Dann zuckt sie die Achseln und bringt erst einmal die zwanzig Neulinge ins Haus. Als Letzte, zögernd und unendlich verwundert, spaziert das kleine Zopfmädchen.
Frau Muthesius, die Leiterin des Ferienheims, sitzt im Büro und berät mit der alten Köchin den Speisezettel für die nächsten Tage.
Da klopft es. Fräulein Ulrike tritt ein und meldet, dass die Neuen gesund, munter und vollzählig eingetroffen seien. Freut mich. Danke schön!
Dann wäre noch eins
Ja? Die vielbeschäftigte Heimleiterin blickt kurz hoch. Es handelt sich um Luise Palfy, beginnt Fräulein Ulrike nicht ohne Zögern. Sie wartet draußen vor der Tür
Herein mit dem Fratz!14 Frau Muthesius muss lächeln. Was hat sie denn wieder angestellt? Diesmal nichts, sagt die Helferin. Es ist bloß Sie öffnet behutsam die Tür und ruft: Kommt herein, ihr beiden! Nur keine Angst! Nun treten die zwei kleinen Mädchen ins Zimmer. Weit voneinander entfernt bleiben sie stehen. Während Frau Muthesius erstaunt auf die Kinder schaut, sagt Fräulein Ulrike: Die Neue heißt Lotte Körner und kommt aus München.
Seid ihr miteinander verwandt?
Die zwei Mädchen schütteln unmerklich, aber überzeugt die Köpfe.
Sie haben einander bis zum heutigen Tage noch nie gesehen!, meint Fräulein Ulrike. Seltsam, nicht?
Wieso seltsam?, fragt die Köchin. Wo doch die eine aus München stammt und die andere aus Wien?
Frau Muthesius sagt freundlich: Zwei Mädchen, die einander so ähnlich schauen, werden sicher gute Freundinnen. Kommt, gebt euch die Hand!
Nein!, ruft Luise und verschränkt die Arme hinter dem Rücken.
Frau Muthesius zuckt die Achseln, denkt nach und sagt:
Ihr könnt gehen.
Luise rennt zur Tür, reißt sie auf und stürmt hinaus. Lotte will langsam das Zimmer verlassen.
Noch einen Augenblick, Lottchen, meint die Leiterin. Sie schlägt ein großes Buch auf.
Ich kann gleich deinen Namen eintragen. Und wann und wo du geboren bist. Und wie deine Eltern heißen.
Ich hab nur noch eine Mutti, flüstert Lotte.
Zuerst also dein Geburtstag!
Lotte geht den Korridor entlang, steigt die Treppen hinauf, öffnet eine Tür und steht im Schrankzimmer. Ihr Koffer ist noch nicht ausgepackt. Sie fängt an, ihre Kleider, Hemden, Schürzen und Strümpfe in den Schrank zu tun.
Lotte hält die Fotografie einer jungen Frau in der Hand. Sie schaut das Bild zärtlich an und versteckt es sorgfältig unter den Schürzen. Als sie den Schrank schließen will, fällt ihr Blick auf einen Spiegel an der Innenwand der Tür. Ernst und forschend mustert sie sich, als sähe sie sich zum ersten Mal. Dann wirft sie plötzlich die Zöpfe weit nach und streicht das Haar so, dass es dem Schopf15 Luise Palfys ähnlich wird.
Irgendwo schlägt eine Tür. Schnell, wie ertappt16, lässt Lotte die Hände sinken.
Luise hockt mit ihren Freundinnen auf der Gartenmauer und hat eine strenge Falte über der Nasenwurzel.
Ich ließe mir das nicht gefallen17, sagt Trude, ihre Klassenkameradin.Da kommt sie frech mit deinem Gesicht daher!
Was soll ich denn machen?, fragt Luise böse.
Zerkratz es ihr!, schlägt Monika vor. Das Beste wird sein, du beißt ihr die Nase ab!, rät Christine. Dann bist du den ganzen Ärger mit einem Schlag los!18 Dabei baumelt sie gemütlich mit den Beinen.