‚Nun mach schon, Bengel‘, sagte er, schwitzend, mit bebendem Bauch, die Trillerpfeife im Mund.
Aber es waren immer noch drei Minuten und drei Sekunden bis zum Abpfiff, dreizehn Sekunden zu früh; wenn er jetzt schon schlüge, würde der nächste noch zum Schlag kommen, und Schrella, der oben am Mal auf Erlösung wartete, würde dann noch einmal losrennen müssen, und sie würden noch einmal Gelegenheit haben, ihm den Ball mit aller Kraft ins Gesicht, gegen die Beine zu werfen, die Nieren zu treffen; dreimal hatte er beobachtet, wie sie es machten: irgendeiner aus der Gegenpartei traf Schrella ab, dann nahm Nettlinger, der in seiner und Schrellas Partei spielte, den Ball, traf den Gegner ab, indem er ihm den Ball einfach zuwarf, und der traf wieder Schrella ab, der sich vor Schmerz krümmte, und wieder nahm Nettlinger den Ball, warf ihn dem Gegner einfach zu, der Schrella ins Gesicht traf – und Ben Wackes stand daneben, pfiff ab, wenn sie Schrella trafen, pfiff ab, wenn Nettlinger dem Gegner den Ball einfach zuwarf, pfiff ab, während Schrella wegzuhumpeln versuchte; rasch ging’s, die Bälle flogen hin und her – hatte er als einziger es gesehen? Nicht einer von all den vielen Zuschauern, die da mit ihren bunten Fähnchen und bunten Mützen fiebernd vor Spannung auf das Ende des Spiels warteten? Zwei Minuten und fünfzig Sekunden vor Schluss stand es 34:29 für das Prinz-Otto-Gymnasium – und war dies, das nur er gesehen hatte, der Grund dafür, dass sie Ben Wackes, ihren eigenen Turnlehrer, als Schiedsrichter akzeptiert hatten?
‚Jetzt mach aber, Bengel, in zwei Minuten pfeif ich ab.‘
‚Zwei Minuten und fünfzig Sekunden, bitte‘, sagte er, warf den Ball hoch, griff blitzschnell um und schlug; er spürte es an der Wucht des Schlages, am federnden Widerstand des Holzes: das war wieder einer seiner sagenhaften Treffer; er blinzelte hinter dem Ball her, konnte ihn nicht entdecken, hörte das Ah aus der Zuschauermenge, ein großes Ah, das sich wie eine Wolke ausbreitete, anwuchs; er sah Schrella herangehumpelt kommen, langsam kam er, hatte gelbe Flecken im Gesicht, eine blutige Spur um die Nase; und die Listenführer zählten: sieben, acht, neun; provozierend langsam kam der Rest der Mannschaft am wütenden Ben Wackes vorbei; gewonnen war das Spiel, klar gewonnen, und er hatte vergessen, loszurennen und noch einen zehnten Punkt zu gewinnen; immer noch suchten die Ottoner den Ball, krochen weit hinter der Straße im Gras an der Brauereimauer umher; deutlich war aus Ben Wackes Schlusspfiff der Ärger herauszuhören. 38:34 fürs Ludwig-Gymnasium verkündeten die Listenführer. Das Ah schwoll an zum Hurra, brandete über den Platz, während er sein Schlagholz nahm, es mit dem unteren Ende ins Gras bohrte, den Griff ein wenig hob, dann senkte, bis er den richtigen Winkel erwischt zu haben glaubte; er trat mit dem Fuß auf die schwächste Stelle, wo sich das Holz unterhalb des Griffes verjüngte; Schüler umringten ihn bewundernd, verstummten ergriffen; sie spürten: hier wurde ein Zeichen gegeben, wurde Fähmels berühmtes Schlagholz zerbrochen; tödlich weiß die Splitter, die an der Bruchstelle des zerbrochenen Holzes sichtbar wurden; schon balgten sie sich um Andenken, kämpften verbissen um Holzstücke, rissen sich Leukoplastfetzen aus den Fingern; er blickte erschrocken in diese erhitzten, törichten Gesichter, in diese bewundernden Augen, die vor Erregung glänzten, und spürte die billige Bitternis des Ruhmes, hier an einem Sommerabend, am 14. Juli 1935, samstags am Rande der Vorstadt, auf der zertrampelten Wiese, über die Ben Wackes gerade die Sextaner[17] des Ludwig-Gymnasiums jagte, die Eckfähnchen einzusammeln. Weit hinter der Straße, an der Brauereimauer, waren immer noch die blaugelben Trikots zu sehen; immer noch suchten die Ottoner den Ball; jetzt kamen sie zögernd über die Straße, sammelten sich auf der Mitte des Spielfelds, traten in einer Reihe an, warteten auf ihn, den Mannschaftsführer, dass er das Hipp-Hipp-Hurra ausbringe; langsam ging er auf die beiden Reihen zu, da standen Schrella und Nettlinger in einer Reihe nebeneinander, nichts schien geschehen zu sein, nichts, während sich hinter ihm die jüngeren Schuler weiter um Andenken balgten; er ging weiter, spürte die Bewunderung der Zuschauer wie korperlichen Ekel, und er rief es dreimal: Hipp-Hipp-Hurra; wie geprügelte Hunde schlichen die Ottoner zurück, um den Ball zu suchen; es galt als unauslöschlicher Makel, ihn nicht gefunden zu haben.
„Und ich wusste doch, Hugo, wie scharf Nettlinger auf den Sieg gewesen war: ‚Siegen um jeden Preis‘, hatte er gesagt, und er hatte unseren Sieg aufs Spiel gesetzt, nur damit einer der Gegner Gelegenheit fände, Schrella immer wieder mit dem Ball zu treffen, und Ben Wackes musste mit ihnen im Bund sein; ich hatte es gesehen, ich als einziger.“
Er hatte Angst, als er jetzt auf die Umkleidekabinen zuging, Angst vor Schrella und dem, was er ihm sagen würde. Es war plötzlich kühl geworden, fließende Abendnebel stiegen aus den Wiesen hoch, kamen vom Fluss her, umgaben das Haus, wo die Umkleidekabinen lagen, wie Watteschichten. Warum, warum machten sie das mit Schrella, stellten ihm ein Bein, wenn er zur Pause die Treppe hinunterging; er schlug mit dem Kopf auf die stählerne Treppenkante, der Stahlbügel der Brille bohrte sich ins Ohrläppchen, und viel zu spät kam Wackes mit dem Erste-Hilfe-Kasten aus dem Lehrerzimmer. Nettlinger, mit höhnischem Gesicht, hielt ihm den Leukoplaststreifen stramm, damit er ein Stück abschneiden könne; sie überfielen Schrella auf dem Heimweg, zerrten ihn in Hauseingänge, verprügelten ihn zwischen Abfalleimern und abgestellten Kinderwagen, stießen ihn dunkle Kellertreppen hinunter, und dort unten lag er lange, mit gebrochenem Arm, im Kohlengeruch, Geruch keimender Kartoffeln, im Anblick staubiger Einmachgläser; bis ein Junge, der ausgeschickt war, Äpfel zu holen, ihn fand und die Hausbewohner alarmierte. Nur einige machten nicht mit: Enders, Drischka, Schweugel und Holten. – Vor Jahren war er einmal mit Schrella befreundet gewesen, sie hatten immer zusammen Trischler besucht, der am unteren Hafen wohnte, wo Schrellas Vater in der Kneipe von Trischlers Vater Kellner war; sie hatten auf alten Kähnen gespielt, auf ausrangierten Pontons, von Booten aus geangelt.
Er blieb vor den Umkleidekabinen stehen, hörte die wirren Stimmen, heiser in mythischer Erregung sprachen sie von der sagenhaften Flugbahn des Balles; als wäre der Ball in übermenschliche Höhen entschwunden.
‚Ich hab’s doch gesehen, wie er flog, flog – wie ein Stein, von der Schleuder eines Riesen geschleudert.‘
Ich hab ihn gesehen, den Ball, den Robert schlug.
Ich hab ihn gehört, den Ball, den Robert schlug.
Sie werden ihn nicht finden – den Ball, den Robert schlug.
Sie verstummten, als er eintrat; Angst lag in diesem plötzlichen Schweigen, fast tödlich war die Ehrfürcht vor dem, der getan hatte, was niemand würde glauben, man niemand würde mitteilen können; wer wurde als Zeuge auftreten, die Flugbahn des Balles zu beschreiben?
Rasch liefen sie, barfuß, die Frottiertücher um die Schultern geschlungen, in die Brausekabinen; nur Schrella blieb, er hatte sich angekleidet, ohne gebraust zu haben, und jetzt erst fiel Robert auf, dass Schrella nie brauste, wenn sie gespielt hatten; nie zog er sein Trikot aus; er saß da auf dem Schemel, hatte einen gelben, einen blauen Flecken im Gesicht, war noch feucht um den Mund herum, wo er die Blutspur abgewischt hatte, verfärbt die Haut an den Oberarmen von den Treffern des Balles, den die Ottoner immer noch suchten; saß da, rollte gerade die Ärmel seines verwaschenen Hemdes herunter, zog seine Jacke an, nahm ein Buch aus der Tasche und las: Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten[18].