Sie trabten weiter, Edvard voran, Ole hinterher, hinunter zur "Vorstadt". So hieß der Stadtteil, der an den "Berg" stieß und im wesentlichen aus Arbeiterhäusern, Werkstätten und kleineren Fabriken bestand. Ordentliche Straßenanlagen oder Beleuchtung gab es hier noch nicht; es war jetzt, beim Tauwetter, ein entsetzlicher Morast, der in der Abendkälte gerade zu gefrieren begann. Die paar Laternen, die vorhanden waren, hingen an Stricken, die vom einen Haus zum andern quer über die Gasse gespannt waren, und hinauf- und hinuntergezogen werden konnten. Sie waren schwarz von Qualm und daher äußerst schlechter Laune. Hier und dort hatte eine kleine Werkstatt ihre eigene kleine Laterne, die über der Haustreppe hing. Unter einer solchen Laterne blieb Edvard stehen. Er mußte wieder etwas fragen. Nämlich – wer es eigentlich sei, dessen Ole sich dort unten annahm? Einer, den sie beide kannten? Frohgemut setzte Ole seinen Korb auf die Treppe und stützte sich mit der Hand darauf. Er lächelte: "Du kennst doch die Marte von der Werft?" Ja, die kannte die ganze Stadt; eine tüchtige Frau; aber sie trank; und oft hatten die Schuljungen am Samstagabend ihren Jux mit ihr, wenn sie, an eine Mauer gelehnt, dastand und sie ausschimpfte und sich schließlich umdrehte und zum Zeichen ihrer Hochachtung – na ja, wie das Zeichen aussah, läßt sich nicht gut beschreiben! Aber die Bengels warteten bloß darauf; und die Sache wurde stets mit Jubelgeheul begrüßt.
"Die Marte von der Werft!" rief Edvard. "Die willst Du bekehren?" – "Still doch! Nicht so laut!" bat Ole. Er war flammend rot geworden und sah sich erschrocken um. Edvard wiederholte flüsternd: "Glaubst Du, irgend ein Mensch könnte die bekehren?" – "Ich glaube, ich bin auf dem besten Wege!" flüsterte der andere geheimnisvoll. – "Du mußt schon entschuldigen – aber ich glaub' es nicht!" Die Augen schielten, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. – "Wart' nur erst und hör' mich an! Du weißt doch, im Winter ist sie auf dem Glatteis hingefallen und hat sich bösen Schaden getan?" Jawohl, das wußte er. – "Seitdem liegt sie im Bett, und kein Mensch hat Lust, ihr zu helfen. Sie ist doch so bösartig und kratzbürstig. Gegen mich war sie anfangs widerwärtig – kaum zum Aushalten war's. Aber ich achtete einfach nicht darauf, und jetzt heißt es nur noch 'mein Gottesengelchen', 'mein Lämmeken', 'mein Goldsöhnchen', 'mein gutes Kind'. Denn ich habe sie umgebettet und Kleider und Essen und Bettzeug für sie gesammelt, und die ärgsten Dinge für sie getan, siehst Du. Und doch hat sie eines Abends Miene gemacht, mich zu schlagen, wie ich ihr aufhelfen wollte, und ihr krankes Bein ihr dabei wehtat. Sie schrie wie besessen und hob ihren Stock gegen mich; aber dann nahm sie sich zusammen und fluchte nur ganz fürchterlich und warf mir Schimpfworte an den Kopf. Jetzt ist sie wieder ganz sanft, und neulich hab' ich's sogar gewagt, ihr aus der Bibel vorzulesen." – "Der Marte von der Werft?" – "Die Bergpredigt. Und daß Du's nur weißt – sie hat geweint." – "Geweint? Hat sie's denn verstanden?" – "Nee, sie hat so geweint, daß sie nicht viel davon gehört hat, glaub' ich. Aber die Bibel war es doch, siehst Du. Sie fing schon an zu weinen, als ich das Buch nur herauszog."
Die Knaben sahen einander an; vom Hof her klangen Hammerschläge und in der Ferne eine Dampfpfeife; dann von der Gasse gegenüber das leise Weinen eines Kindes. – "Hat sie was gesagt?" – "Sie sagte, sie sei viel zu schlecht, um so was anzuhören, hat sie gesagt. Und ich erklärte ihr, daß dem lieben Gott gerade die Geringsten die liebsten wären. Sie tat aber, als höre sie das nicht, sondern sagte nur, ich solle doch einmal beim Wäscher-Lars nachsehen, ob er daheim sei." – "Beim Wäscher-Lars?" schrie Edvard, und Ole mußte wieder "Psst!" sagen; der Wäscher-Lars war nämlich ihr guter Freund. – "Du kannst mir's glauben, der ist die ganze Zeit über furchtbar nett gewesen. Im Wäscher-Lars steckt viel Gutes, das sagen alle. Jeden Abend kommt er und hilft ihr. Heut Abend ist er früher gekommen als sonst, darum konnt' ich gehen; sonst bleib' ich viel länger." – "Hast Du ihr noch öfter vorgelesen?" – "Ja, heute wieder. Gleich fing sie wieder zu weinen an; aber heute, glaub' ich, hat sie was gehört. Denn wie ich ihr das vom verlorenen Sohn vorlas, sagte sie: ich bin ja woll eins von seinen Schweinen!" – Beide Jungens lachten. "Da sagt' ich denn, das glaubte ich doch nicht. Dann wollte ich versuchen, zu beten. Ach, das nützt ja doch alles nichts! sagte sie. Aber als ich dann das Vaterunser anfing, wurde sie ganz verdreht, weißt Du, gerad' als ob sie sich fürchte, und sie richtete sich auf und schrie, davon wolle sie nichts wissen – unter keinen Umständen! Und dann legte sie sich wieder hin und heulte." – "Es wurde also nichts?" – "Nein, und dann kam der Wäscher-Lars, und sie sagte, ich solle gehen. Aber siehst Du, wie es gewirkt hat? Glaubst Du nicht, daß ich auf dem besten Wege bin?" – Edvard war nicht so ganz sicher.
Seine Bewunderung hatte augenscheinlich einen kleinen Knax bekommen.
Bald darauf trennten sie sich.
2
In den höheren Schulen herrscht bisweilen ein Geist, der dem Geist der Stadt, in der die Schule liegt, völlig entgegengesetzt ist; ja, in der Regel steht die Schule in gewissen Stücken unter ganz selbständigen Einwirkungen. Ein einziger Lehrer vermag die Schüler in seinem Bann zu halten, ebenso wie es oft von einem Kameraden oder von ein paar abhängt, ob unter den Knaben ein Geist der Ritterlichkeit oder das Gegenteil, ein Geist des Gehorsams oder das Gegenteil herrscht. In der Regel übernimmt irgend ein einzelner die Führung. Auch in sittlicher Hinsicht ist das so. Die Knaben arten ihrem Vorbild nach, und meist hat einer oder haben mehrere die Macht, als Vorbild zu wirken.
Gegenwärtig hatte der Primus Anders Hegge teilweise die Oberleitung in Händen. Einen so gelehrten Schüler hatte die Schule seit ihrer Gründung nicht gesehen; er war ein Jahr länger geblieben als nötig, nur um der Schule den Glanz eines unzweifelhaften prae ceteris zu verschaffen. Die Knaben waren unglaublich stolz auf ihn. Bewundernd erzählten sie, wie er die Lehrer in der Gewalt habe, und daß er seine Stunden nach eigenem Belieben wählen und kommen und gehen könne, wie es ihm gerade passe. Meist arbeitete er für sich. Er besaß eine Bibliothek, deren Regale längst die Wände so angefüllt hatten, daß sie jetzt den Fußboden entlang krochen. Ein langer Bücherständer stand auf jeder Seite des Sofas. Es gingen solche Wundergeschichten darüber um, daß sogar die kleinsten Jungens ihn besuchen und mit eigenen Augen sehen mußten. Und mitten drin, am Fenster, saß er selber und rauchte, in einem bis auf die Füße reichenden Schlafrock, dem Geschenk einer verheirateten Schwester, auf dem Kopf eine Samtmütze mit Goldquaste, das Geschenk einer Tante, an den Füßen gestickte Pantoffeln, das Geschenk einer Patin. Er war ein Damenprodukt – wohnte bei seiner verwitweten Mutter, und fünf ältliche Verwandte bezahlten seine Bücher, kleideten ihn und versahen ihn mit Taschengeld.
Ein großer, kräftiger Bursche mit einem regelmäßigen, feingeschnittenen Gesicht, dem Gesicht eines alten Geschlechts. Es wäre schön gewesen, wenn es nicht Glotzaugen und einen gierigen und lauernden Ausdruck gehabt hätte. Ähnlich sein wohlgebauter Körper: er hätte einen stattlichen Eindruck gemacht, wenn er nicht vornüber gebückt gegangen wäre, als drücke eine Last seinen Rücken, und einen ungleichmäßigen Gang gehabt hätte. Hände und Füße waren zierlich; er konnte nicht leiden, wenn man ihn anrührte, war verfroren und zimperlich und hatte einen durchaus weiblichen Geschmack.