„Ihr habt gerade den einzigen Zeugen gegen Euch vor den Augen aller umgebracht.“, sagte er. „Seht Ihr nicht, dass das nur den Verdacht gegen Euch weiter vertieft?“
„Welchen Zeugen?“, fragte Gareth lächelnd. „Tote können nicht sprechen.“
Der Kommandant wurde rot.
„Ihr dürft nicht vergessen, dass ich der Kommandant der verbliebenen königlichen Armee bin. Ich lasse mich nicht von Euch zum Narren halten. Aus Eurer Tat schließe ich, dass Ihr des Verbrechens schuldig seid, dessen Euch dieser Mann da beschuldigt hat. Daher werden ich und meine Armee Euch nicht länger dienen. Vielmehr werde ich Euch wegen Hochverrats am Ring in Gewahrsam nehmen!“
Der Kommandant nickte seinen Männern zu, und mit einem Mal zogen ein paar Dutzend Männer ihre Schwerter und traten vor, um Gareth festzunehmen.
Lord Kultin trat mit doppelt so vielen seiner eigenen Männer vor und alle bezogen mit ebenfalls gezogenen Schwertern hinter Gareth Stellung.
So standen sie den Kriegern des Kommandanten gegenüber, und Gareth stand zwischen ihnen.
Er grinste den Kommandanten triumphierend an. Seine Männer waren gegen Gareth’s private Kampftruppe in der Unterzahl und er wusste es.
„Ich werde mich in niemandes Gewahrsam begeben“, höhnte Gareth. „Und schon gar nicht von deiner Hand! Nimm deine Männer und verlasse meinen Hof – oder stelle dich meiner Truppe.“
Nach wenigen angespannten Sekunden, drehte sich der Kommandant schließlich um, signalisierte seinen Männern, und sie begannen sich vorsichtig zurückzuziehen. Sie gingen mit gezogenen Schwertern rückwärts dem Ausgang zu.
„Von diesem Tage an“, polterte der Kommandant, „wisst, dass wir Euch nicht länger dienen! Ihr werdet Euch alleine der Armee des Empire stellen müssen. Ich hoffe, dass sie Euch gut behandeln werden. Besser als ihr Euren Vater behandelt habt!“
Unter lautem klappern ihrer Rüstungen stürmten die Krieger aus dem Raum.
Die Ratsmitglieder, Diener und anderen verbliebenen Adligen standen alle da und flüsterten miteinander.
„Geht!“, schrie Gareth. „Alle!“
Alle Männer inklusive seiner privaten Kampftruppe verließen schnell die Kammer.
Nur eine Person blieb zurück. Lord Kultin.
Gareth und er waren die einzigen Männer, die noch im Raum waren. Er ging auf Gareth zu, blieb wenige Meter vor ihm stehen und betrachtete ihn, als ob er versuchen wollte, ihn einzuschätzen. Wie immer blieb sein Gesicht dabei ausdruckslos. Es war das Gesicht eines wahren Söldners.
„Mir ist es völlig egal, was ihr getan habt oder warum.“, setzte er an, und seine Stimme klang tief und dunkel. „Mir ist die Politik gleich. Ich bin ein Krieger. Mir ist nur das Geld wichtig, das Ihr mir und meinen Männern zahlt.“
Er machte eine Pause.
„Dennoch würde ich gerne wissen, nur zu meiner persönlichen Befriedigung: habt Ihr wirklich diesen Männern befohlen, das Schwert fortzuschaffen?“
Gareth starrte ihn an. Da war etwas in seinen Augen, das er von sich selbst kannte: sie waren kalt, unbarmherzig und opportunistisch.
„Und wenn dem so wäre?“, fragte Gareth zurück.
Lord Kultin sah ihn lange an.
„Aber warum?“, fragte er.
Gareth starrte zurück.
Kultins Augen weiteten sich vor Erkenntnis.
„Ihr konntet es nicht kontrollieren, also sollte es auch sonst niemand tun?“, fragte Kultin. „Ist es das?“ Er dachte über die Konsequenzen nach. „Und doch“, fügte Kultin hinzu „müsst Ihr gewusst haben, dass der Schild zusammenbrechen würde, wenn Ihr es fortschickt, und dass wir dadurch einem Angriff schutzlos ausgeliefert sind.“
Seine Augen weiteten sich noch mehr.
„Ihr wolltet, dass wir angegriffen werden, nicht wahr? Etwas in Euch will, dass King’s Court zerstört wird!“, sagte er und begann plötzlich zu verstehen.
Gareth lächelte ihn an.
„Nicht alle Orte sind für die Ewigkeit geschaffen“, sagte Gareth langsam.
KAPITEL FÜNF
Gwendolyn marschierte mit ihrer riesigen Gefolgschaft von Kriegern, Beratern, Dienern, Ratsmitgliedern, Angehörigen der Silver und der Legion und gut der Hälfte der Bürger von King’s Court auf dem Weg fort von King’s Court. Eine wandelnde Stadt. Gwen war von Gefühlen überwältigt. Auf der einen Seite war sie froh, endlich außer Reichweite ihres Bruders Gareth zu sein, umgeben von Kriegern, die sie beschützen würden, und ohne Angst vor Gareths Heimtücke oder seinen Versuchen, sie mit irgendjemandem zu verheiraten. Endlich würde sie sich nicht mehr bei jedem Schritt und in jedem wachen Augenblick vor seinen Mördern Fürchten müssen.
Gwen fühlte sich inspiriert und demütig, als Herrscherin ausgewählt worden zu sein, und diesen riesigen Trupp anzuführen. Die riesige Gefolgschaft folgte ihr, als wäre sie Prophetin, und marschierte auf dem endlosen erscheinenden Weg nach Silesia. Sie sahen sie als ihre neue Herrscherin – sie konnte es in jedem ihrer Blicke sehen – und sahen sie voller Erwartung an. Sie fühlte sich schuldig, wünschte sich, dass einem ihrer Brüder diese Ehre zuteil werden könnte – jedem, nur nicht ihr. Doch sie sah, wie viel Hoffnung es den Menschen gab, einen fairen und gerechten Herrscher zu haben, und das machte sie glücklich. Wenn sie diese Rolle für sie ausfüllen konnte, besonders in diesen dunklen Zeiten, dann würde sie es tun.
Gwen dachte an Thor, an ihren tränenreichen Abschied am Canyon, und es brach ihr das Herz; sie hatte gesehen wie er verschwand, wie er über die Brücke über den Canyon lief und vom Nebel verschluckt wurde, einer Reise entgegen, die ihn höchstwahrscheinlich das Leben kosten würde. Es war eine heldenhafte und edle Mission – eine, die sie ihm nicht verweigern konnte – eine von der sie wusste, dass sie zum Wohl des Königreichs, zum Wohl des Rings geschah. Doch sie fragte sich, warum es gerade er sein musste. Sie wünschte sich, dass irgendjemand anderer an seiner statt gehen könnte. Sie wollte ihn jetzt mehr denn je an ihrer Seite wissen. In dieser Zeit des Umbruchs, des großen Wandels, in der sie alleine regieren und sein Kind tragen sollte, wollte sie ihn an ihrer Seite haben. Mehr als alles andere jedoch hatte sie Angst um ihn. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen; alleine der Gedanke daran trieb ihr Tränen in die Augen.
Doch Gwen atmete tief und blieb stark, denn sie wusste, dass alle Augen auf sie gerichtet waren als sie immer weiter gen Norden, auf das entfernte Silesia zumarschierten – eine endlose Karawane auf dieser staubigen Straße. Gwen war immer noch in Schock über ihr zerrissenes Heimatland. Sie konnte kaum fassen, dass der alte Schild zusammengebrochen sein sollte und dass der Canyon überwunden worden war. Gerüchte machten die Runde, dass Andronicus bereits an der Küste von McClouds Land gelandet sein sollte. Sie konnte nicht sicher sein, was sie glauben konnte. Es fiel ihr schwer zu begreifen, dass all das so schnell geschehen konnte – immerhin musste Andronicus mit seiner gesamten riesigen Flotte den Ozean überqueren. Außer natürlich, falls McCloud hinter dem Diebstahl des Schwertes steckte und er den Zusammenbruch des Schildes inszeniert hatte. Doch wie? Wie war es ihm gelungen, es zu stehlen? Wo hatte er es hingebracht?
Gwen konnte fühlen, wie deprimiert alle um sie herum waren, und sie konnte es verstehen. Eine allgemeine Stimmung der Verzweiflung lag über der Gruppe, und das aus gutem Grund; ohne den Schild waren sie vollkommen schutzlos. Es war nur eine Frage der Zeit – wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen – Andronicus würde angreifen. Und wenn er es tat, dann gab es keinen Weg, seine Männer aufzuhalten. Bald würde er diesen Ort, alles was sie so liebgewonnen hatte und schätzte, erobern und jeden den sie liebte umbringen.