Mit unglaublicher Geschwindigkeit sprang Kyle den Hügel hinunter und hatte das Forum im Handumdrehen hinter sich gelassen. Dann mischte er sich unter die Menschen auf den belebten, vollen Straßen Roms.
Staunend stellte er fest, dass Rom sogar schon zweihundert Jahre früher überfüllt gewesen war.
Langsam ließ er sich im Gedränge mittreiben. Auf dem breiten Boulevard, der noch unbefestigt war, eilten Tausende von Menschen in alle Richtungen. Überall sah man Pferde aller Größen und Formen, außerdem von Pferden gezogene Karren, Fuhrwerke und Kutschen. Die Straßen stanken nach menschlichen Ausdünstungen und Pferdemist. Jetzt erinnerte Kyle sich wieder an die fehlende Kanalisation und die mangelhafte Körperhygiene – es war der Gestank alter Zeiten. Er machte ihn regelrecht krank.
Kyle wurde ständig angerempelt, während die Menschenmenge immer dichter wurde. Menschen aller Rassen und Klassen hasteten hin und her. Er wunderte sich über die primitiven Fassaden der Läden, in denen altmodische italiensche Hüte feilgeboten wurden. Kleine Jungen in Lumpen kamen auf ihn zu und boten Obst zum Verkauf an. Manche Dinge änderten sich einfach nie.
Dann bog Kyle in eine schmale, heruntergekommene Gasse ein, an die er sich gut erinnerte. Er hoffte, dass sie noch das war, was sie einst gewesen war. Zu seinem Entzücken wurde er nicht enttäuscht – an den Hauswänden lehnten Prostituierte, die ihn alle ansprachen, als er vorbeiging.
Kyle grinste breit.
Als er sich einer der Damen näherte – einer großen, vollbusigen Frau mit rotgefärbtem Haar und zu viel Make-up -, streckte sie die Hand aus und streichelte sein Gesicht.
»Hey, großer Junge«, sagte sie, »willst du dich ein bisschen amüsieren? Wie viel hast du denn?«
Kyle lächelte, legte den Arm um sie und bugsierte sie eine Seitengasse.
Sie folgte ihm bereitwillig.
Sobald sie um die Ecke gebogen waren, sagte sie: »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie viel Geld hast …«
Noch bevor sie die Frage beenden konnte, hatte Kyle ihr bereits die Zähne in den Hals gebohrt.
Als sie schreien wollte, hielt er ihr mit der freien Hand den Mund zu und zog sie dichter an sich. Er trank und trank. Sobald das Menschenblut durch seine Adern strömte, fühlte er sich prächtig. Er war völlig ausgedörrt und dehydriert gewesen. Die Zeitreise hatte ihn erschöpft, und diese Mahlzeit war genau das, was er brauchte, um ihm neue Kraft zu geben.
Der Körper der Frau erschlaffte, doch er trank immer weiter. Schließlich war er restlos gesättigt und ließ die Frau einfach fallen.
Als er sich umdrehte, um weiterzugehen, tauchte ein großer, unrasierter Mann vor ihm auf, dem ein Zahn fehlte. Er zog einen Dolch aus seinem Gürtel und blickte auf die tote Frau zu Kyles Füßen. Dann zog er eine Grimasse und warf Kyle einen drohenden Blick zu.
»Die Frau hat mir gehört«, sagte er dann. »Hoffentlich hast du wenigstens genug Geld dabei.«
Damit trat er zwei Schritte näher und holte mit seinem Dolch aus.
Kyle reagierte blitzschnell, wich der Waffe aus und packte den Mann am Handgelenk. Mit einer einzigen fließenden Bewegung brach er dem Angreifer den Arm. Bevor der Mann auch nur einen Laut von sich geben konnte, hatte Kyle sich den Dolch geschnappt und seinem Gegner die Kehle durchgeschnitten. Auch diese Leiche ließ er einfach auf die Straße fallen.
Dann betrachtete er den Dolch, ein hübsches kleines Ding mit einem Elfenbeingriff, und nickte beifällig – gar nicht so übel. Er steckte die Waffe in seinen Gürtel und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund ab. Dann atmete er tief durch, marschierte zufrieden die Gasse entlang und bog wieder in die Hauptstraße ein.
Oh, wie sehr hatte er Rom vermisst!
3. Kapitel
Nachdem der Priester das Hauptportal verbarrikadiert und alle anderen Eingänge abgeschlossen hatte, ging Caitlin mit ihm zusammen durch die Kirche. Da die Sonne inzwischen untergegangen war, zündete er eine Fackel nach der anderen an, die dann allmählich den riesigen Raum erhellten.
Als Caitlin aufblickte, bemerkte sie zahlreiche große Kreuze an den Wänden – sie fragte sich verwundert, warum sie sich hier so wohlfühlte. Sollten Vampire nicht eigentlich Angst vor Kirchen haben? Und vor Kreuzen? Dann fiel ihr das Zuhause des Whitetide Clans in New York ein – in The Cloisters – und all die Kreuze, die dort an den Wänden hingen. Caleb hatte ihr erzählt, dass manche Vampirgeschlechter Kirchen als Wohnorte bevorzugten. Er hatte er ihr einen langen Monolog über die Geschichte der Vampirgeschlechter und ihre Beziehung zum Christentum gehalten, doch sie hatte damals nicht besonders aufmerksam zugehört, weil sie so verliebt in ihn gewesen war. Jetzt wünschte sie, sie hätte besser aufgepasst.
Der Vampirpriester führte Caitlin durch eine Seitentür, hinter der sich eine Steintreppe befand. Sie stiegen die Stufen hinunter und gingen einen mittelalterlichen Gewölbegang entlang. Unterwegs zündete ihr Begleiter weitere Fackeln an.
»Ich glaube nicht, dass sie zurückkommen«, meinte er und verriegelte eine weitere Tür. »Sie werden die Umgebung nach dir absuchen, und wenn sie dich nicht finden, gehen sie bestimmt nach Hause. Das machen sie immer so.«
Caitlin hatte das Gefühl, in Sicherheit zu sein, und war dem Mann sehr dankbar für seine Hilfe. Natürlich fragte sie sich, warum er ihr überhaupt geholfen und sein eigenes Leben für sie riskiert hatte.
»Weil ich von deiner Art bin«, sagte er, drehte sich um und sah sie direkt an. Der stechende Blick seiner blauen Augen schien sie förmlich zu durchbohren.
Wieder einmal hatte Caitlin vergessen, wie leicht Vampire die Gedanken anderer lesen konnten. Doch einen Moment lang hatte sie gar nicht daran gedacht, dass er ein Vampir war.
»Nicht alle von uns fürchten sich vor Kirchen«, erklärte er und beantwortete damit ihre unausgesprochene Frage. »Du weißt doch, dass das Vampirvolk gespalten ist. Wir – die Gattung der Guten – brauchen Kirchen. Wir blühen darin auf.«
Als sie in einen anderen Gang einbogen und eine weitere Treppe hinunterstiegen, fragte Caitlin sich, wohin er sie führte. So viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, dass sie gar nicht wusste, welche sie zuerst stellen sollte.
»Wo bin ich?«, fragte sie schließlich und merkte, dass das ihre ersten Worte waren, seit sie sich begegnet waren. Jetzt purzelten ihr die Fragen förmlich aus dem Mund. »Welches Land ist das hier? In welchem Jahr sind wir?«
Als er lächelte, bildeten sich in seinem Gesicht feine Fältchen. Er war klein und zierlich, hatte weißes Haar, war glattrasiert und wirkte irgendwie großväterlich. Sein Priestergewand war aufwendig gearbeitet, und für einen Vampir sah er sehr alt aus. Neugierig fragte sie sich, wie viele Jahrhunderte er wohl schon auf der Erde verbracht haben mochte. Er strahlte Güte und Wärme aus, und sie fühlte sich in seiner Gegenwart ausgesprochen wohl.
»So viele Fragen«, erwiderte er schließlich lächelnd. »Ich verstehe, dass all das viel für dich ist. Nun, fangen wir damit an, dass du in Umbrien bist, in der kleinen Stadt Assisi.«
Sie zerbrach sich den Kopf und versuchte sich zusammenzureimen, wo das sein konnte.
»In Italien?«, fragte sie schließlich.
»Ja, in der Zukunft wird diese Region Teil eines Landes namens Italien sein«, entgegnete er, »aber jetzt noch nicht. Wir sind zurzeit noch unabhängig. Vergiss nicht«, fuhr er lächelnd fort, »du bist nicht mehr im einundzwanzigsten Jahrhundert – wie du wahrscheinlich schon aus der Kleidung und dem Verhalten dieser Dorfbewohner geschlossen hast.«