*
“Eleganter, Kate!”, rief die Nonne. “Noch eleganter!”
Kate hatte keine Zeit für Eleganz, aber dennoch gab sie sich Mühe, als sie Wasser in einen Kelch füllte, der von der Schwester gehalten wurde. Schwester Yvaine betrachtete sie kritisch unter ihrer Maske.
“Nein, du hast es immer noch nicht verstanden. Und ich weiß, dass du kein ungeschicktes Mädchen bist. Ich habe gesehen, wie du die Räder im Hof gedreht hast.”
Sie hatte Kate nicht dafür bestraft, was zeigte, dass Schwester Yvaine nicht die Schlimmste von allen hier war. Kate versuchte es noch einmal, ihre Hand zitterte.
Sie und die anderen Mädchen sollten lernen, wie man elegant an vornehmen Tischen serviert, aber die Wahrheit war, das Kate nicht dafür gemacht war. Sie war zu klein und zu eng bemuskelt für die Art von dankbarer Weiblichkeit, an die die Nonnen dachten. Es gab einen Grund, warum sie ihr rotes Haar kurz hielt. In der idealen Welt, wo sie frei war zu wählen, hoffte sie auf eine Lehrstelle bei einem Schmied oder vielleicht eine dieser Gruppen von Spielern, die in der Stadt arbeiteten – oder vielleicht sogar auf eine Chance in die Armee zu kommen, wie die Jungs das machten. Diese Art von Unterricht mit anmutigem Eingießen wäre das richtige für ihre große Schwester, mit ihrem Traum von der Aristokratie gewesen, die hätte das genossen, - sie nicht.
Als wenn der Gedanke es heraufbeschworen hatte, zuckte Kate zusammen, als sie die Stimme ihrer Schwester in ihren Gedanken hörte. Sie wunderte sich, denn ihr Talent war nicht immer verlässlich.
Aber dann kam es wieder und da war auch Gefühl dahinter.
Kate, der Hof! Hilf mir!
Kate konnte die Angst dort fühlen.
Sie trat von der Nonne weg, unfreiwillig zügig und verschüttete dabei den Krug mit Wasser auf dem Steinboden.
“Es tut mir leid”, sagte sie. “Ich muss gehen.”
Schwester Yvaine starrte immer noch auf das Wasser.
“Kate, mach das sofort sauber!”
Aber Kate rannte bereits. Sie würde wahrscheinlich später dafür geschlagen werden, aber sie war auch schon vorher geschlagen worden. Es bedeutete nichts. Aber der einzigen Person auf der Welt zu helfen, um die sie sich sorgte, dass bedeutete etwas.
Sie rannte durch das Waisenhaus. Sie kannte den Weg, denn sie hatte jede Ecke und jeden Winkel dieses Hauses in den Jahren kennengelernt, seit der schrecklichen Nacht, in der sie hier abgegeben wurde.
Manchmal stahl sie sich spät abends raus, weg von dem unaufhörlichen Schnarchen und dem strengen Geruch des Schlafzimmers und genoss den Ort im Dunkeln, wenn sie die Einzige war, die auf war, wenn das Läuten der Städteglocken das einzige Geräusch war und sie ein Gefühl für jeden Winkel lernte. Sie spürte, dass sie es eines Tages brauchen würde.
Und jetzt brauchte sie es.
Kate konnte das Geräusch ihrer Schwester hören, die kämpfte und nach Hilfe rief. Instinktiv duckte sie sich in ein Zimmer, sie griff nach einem Schürhaken vom Feuerrost und ging weiter. Was sie damit tun würde, wusste sie noch nicht.
Sie rannte auf den Hof und ihr Herz sank, als sie sah, wie ihre Schwester von zwei Jungen festgehalten wurde, während ein anderer an ihrem Kleid fummelte.
Kate wusste genau, was sie tun musste.
Eine Urwut überkam sie, eine die sie nicht kontrollieren konnte, selbst wenn sie es wünschte und so rannte Kate mit Gebrüll vorwärts, schwang den Schürhaken in die Richtung des Kopfes des ersten Jungen. Er drehte sich um, als Kate zuschlug, es traf ihn also nicht so, wie sie wollte, aber es war genug, um ihn umzuwerfen, er berührte die Stelle, die sie getroffen hatte.
Sie schwang den Schürhaken erneut, erwischte ihm an Knie, als er stand und er begann zu taumeln. Sie schlug den dritten Schlag in den Magen, bis er umkippte.
Sie schlug weiter, sie wollte den Jungen keine Zeit zum Erholen geben. Sie war in einer Vielzahl von Kämpfen in den Jahren im Waisenhaus verwickelt gewesen und sie wusste, dass sie sich nicht auf Größe oder Stärke verlassen konnte. Rage, war das Einzige, was sie lenkte. Und Gott sei Dank hatte Kate ziemlich viel davon.
Sie schlug und schlug, bis die Jungen zurückwichen. Sie waren vielleicht darauf vorbereitet, der Armee beizutreten, aber die maskierten Brüder auf deren Seite hatten ihnen nicht das Kämpfen beigebracht. Das hätte es schwer gemacht, sie zu kontrollieren. Kate schlug einen der Jungen ins Gesicht, dann holte sie erneut aus, um aufeinen weiteren Ellbogen mit dem Schlag von Eisen auf Knochen zu schlagen.
“Steh auf”, sagte sie zu ihrer Schwester und streckte ihre Hand aus. “Steh auf!”
Ihre Schwester stand wie betäubt da, nahm Kates Hand, als wenn sie jetzt die jüngere Schwester wäre. Kate begann zu rennen und ihre Schwester rannte mit. Sophia schien wieder zu sich selbst zu finden, während sie rannte, ein wenig von der alten Sicherheit schien zurückzukommen, während sie die Korridore des Waisenhauses entlang liefen.
Hinter ihnen konnte Kate Rufe hören, von den Jungen oder Schwestern oder beides. Sie kümmerte sich nicht darum. Sie wusste, dass es keinen Ausweg gab.
“Wir können nicht zurückgehen”, sagte Sophia. “Wir müssen das Waisenhaus verlassen.”
Kate nickte. So etwas wie das hier wäre mehr, als nur Schläge zur Bestrafung. Aber dann erinnerte sich Kate.
“Dann gehen wir”, antwortete Kate im Laufen. “Aber zuerst muss ich noch –“
“Nein”, sagte Sophia. “Wir haben keine Zeit. Lasse alles hier. Wir müssen gehen.”
Kate schüttelte ihren Kopf. Es gab Dinge, die sie nicht zurücklassen konnte.
Sie rannte stattdessen in die Richtung ihres Schlafzimmers und hielt dabei Sophia am Arm fest, sodass sie hinterherlaufen musste.
Der Schlafsaal war ein trostloser Ort mit Betten, die ein wenig mehr als Holzbretter waren, die aus der Wand wie Regale hervorstanden. Kate war nicht so dumm, irgendwas was ihr bedeutete in der kleinen Truhe am Fußende des Betts zu verstecken, wo jeder es stehlen konnte. Stattdessen ging sie zu der Spalte zwischen den Flurböden und fummelte mit ihren Fingern daran herum, bis sich eins löste.
“Kate”, Sophia keuchte und rang nach Atem, “es ist keine Zeit.”
Kate schüttelte ihren Kopf.
“Ich lasse es nicht hier.”
Sophia wusste, weswegen sie hier hergekommen waren; die einzige Erinnerung, die sie von dieser Nacht hatte, von ihrem alten Leben.
Endlich hatten Kates Finger das Metall gefunden und sie hielt die Kette hoch, die in dem schwachen Licht glänzte.
Als sie ein Kind war, war sie sich sicher gewesen, dass es echtes Gold war; ein Vermögen, das darauf wartete, ausgegeben zu werden. Als sie älter wurde, hatte sie gesehen, dass es eine billige Legierung war, aber bis dahin war es schon weit mehr als Gold für sie geworden. Das kleine Bild darin, eine lächelnde Frau und ein Mann, der seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, war das nahste an eine Erinnerung, dass sie an ihre Eltern hatte.
Kate trug es normalerweise nicht, aus Angst, dass die anderen Kinder oder die Nonnen es ihr wegnehmen würden. Jetzt stopfte sie es in ihr Kleid.
“Lass uns gehen”, sagte sie.
Sie rannten zu den Türen des Waisenhauses, die angeblich immer offen waren, weil die maskierte Göttin die Türen verschlossen vorgefunden hatte, als sie die Welt besuchte und diejenigen drinnen verdammt hatte. Kate und Sophia rannten durch die Drehungen und Wendungen der Flure, kamen auf dem Flur heraus und sahen sich nach den Verfolgern um.
Kate konnte sie hören, aber dann war nur die gewöhnliche Schwester an der Tür: eine fette Frau, die sich bewegte, um den Weg zu versperren, als die beiden sich ihr näherten. Kate wurde rot, als sie sich an all die Jahre mit den Schlägen erinnerte, die von ihr ausgeführt worden waren.