„Zwölf?“, fragte er verblüfft.
„Das Schwert des Schicksals zu finden war eine davon. Du hast sie ausgezeichnet gelöst. Mich zu finden, war die Nächste. Damit hast du zwei der Aufgaben erfüllt, die dir zugedacht sind. Zehn weitere werden folgen. Zehn Aufgaben, die weit grösser sind, als die ersten zwei.“
„Zehn weitere?“, fragte er. „Noch grösser? Wie ist das möglich?“
„Lass es mich dir zeigen“, sagte sie, legte ihm den Arm auf die Schulter, und führte ihn sanft den Flur hinunter. Sie führte ihn durch eine blau schimmernde Tür aus Saphir in einem Raum, der ganz mit Saphiren ausgekleidet war schimmernd grün.
Thors Mutter führte ihn zu einem großen Kristallfenster. Thor stand neben ihr. Er hob seine Hand und legte sie auf die kristallene Scheibe. Er verspürte einen Drang, das zu tun, und als seine Fingerspitzen die Scheibe berührten, öffneten sich die Fensterflügel langsam.
Thor blickte aufs Meer hinaus, über dem einblendend weißer Nebel lag, der das Licht reflektierte, und ihm das Gefühl gab, über den Wolken zu schweben.
„Sieh hinaus und sag mir, was du siehst.“
Thor ließ den Blick schweifen, und zunächst sah er nichts außer dem Meer und den weißen Dunst. Doch bald wurde der Dunst heller, das Meer begann zu verschwinden, und Bilder begannen, vor ihm aufzublitzen.
Das erste, was Thor sah, war sein Sohn, Guwayne, der auf hoher See in einem kleinen Boot trieb. Thors Herz begann zu rasen.
„Guwayne!“, rief er aus. „Ist das wahr?“
„Ja, in diesem Augenblick ist er auf dem offenen Meer“, sagte sie. „Er braucht dich. Ihn zu finden, ist eine der großen Aufgaben deines Lebens.“
Als Thor zusah, wie Guwayne von den Wellen davongetragen wurde, spürte er einen unglaublichen Drang, diesen Ort zu verlassen, und zum Meer zu laufen.
„Ich muss sofort zu ihm!“
Doch seine Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
„Schau weiter. Es gibt noch mehr zu sehen“, sagte sie.
Thor blickte wieder in den weißen Dunst, und sah Gwendolyn und ihr Volk; sie saßen zusammengekauert auf einer felsigen Insel und wappneten sich, als eine riesige Schar von Drachen den Himmel verdunkelte. Er sah eine Wand aus Feuer, brennende Körper, Menschen, die unter unglaublichen Qualen schrien.
Thors Herz pochte wild.
„Gwendolyn!“, rief er. „Ich muss zu ihr.“
Seine Mutter nickte.
„Sie braucht dich, Thorgrin. Sie alle brauchen dich – und sie brauchen eine neue Heimat.“
Als Thor weiter durch das Fenster blickte, sah er, wie sich die Landschaft veränderte. Er sah, dass der gesamte Ring zerstört war, eine schwarze, verkohlte Ebene, und er sah Romulus Armee, die wie Heuschrecken über alles, was übrig geblieben war, herfiel.
„Der Ring“, flüsterte er geschockt. „Er ist zerstört.“
Thor spürte ein brennendes Bedürfnis, sofort aufzubrechen und alle sofort zu retten.
Seine Mutter schloss das Fenster, und er drehte sich um und sah sie an.
„Das sind nur einige der Aufgaben, die vor dir liegen“, sagte sie. „Dein Kind braucht dich; Gwendolyn braucht dich; dein Volk braucht dich – und darüber hinaus musst du dich auf den Tag vorbereiten, an dem du König werden wirst.“
Thor riss seine Augen auf.
„Ich? König?“
Seine Mutter nickte.
„Das ist dein Schicksal, Thorgrin. Du bist die letzte Hoffnung. Du musst der König der Druiden werden.“
„Der König der Druiden?“, fragte er, und versuchte die Worte seiner Mutter zu verstehen. „Aber… Ich verstehe es nicht. Ich dachte, ich wäre im Land der Druiden?“
„Die Druiden leben hier nicht mehr“, erklärte sie. „Wir befinden uns im Exil. Sie leben nun in einem weit entfernten Königreich in den Weiten des Empire, und sie sind in großer Gefahr. Es ist dir bestimmt, ihr König zu werden. Sie brauchen dich, und du brauchst sie. Ihre und deine Kräfte müssen vereint werden für die Schlacht gegen die größte Macht, die sich uns je entgegengestellt hat. Eine Gefahr, die noch viel grösser ist als die Drachen.“
Thor starrte sie an.
„Mutter, ich bin verwirrt“, gab er zu.
„Das kommt daher, weil deine Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist. Du hast große Fortschritte gemacht, doch du bist noch nicht einmal annähernd auf der Stufe angekommen, die du erreichen musst, um ein großer Krieger zu werden. Du wirst mächtige neue Lehrer treffen, die dich auf Ebenen führen werden, die sich deiner Vorstellungskraft entziehen. Du hast noch nicht einmal begonnen, dein Potential als Krieger auszuloten. Du wirst all ihr Training brauchen“, fuhr sie fort. „Du wirst dich gigantischen Reichen gegenübersehen, Königreichen, die großartiger sind, als alles, was du bisher gesehen hast. Du wirst wilden Tyrannen begegnen, gegen die Andronicus gar nichts ist.“
Seine Mutter betrachtete ihn aus wissenden und mitfühlenden Augen.
„Das Leben ist immer noch ein wenig großartiger, als du es dir vorstellen kannst, Thorgrin“, erklärte sie. „Immer ein wenig grösser. In deinen Augen ist der Ring ein großes Königreich, das Zentrum der Welt. Doch es ist klein verglichen mit dem Rest der Welt, nicht mehr als ein Fleckchen auf der Landkarte des Empire. Thorgrin, es gibt Welten, die alles übertreffen, was du dir vorstellen kannst. Sie sind grösser als alles, was du je gesehen hast. Du hast noch nicht einmal zu leben begonnen.“
Sie hielt inne. „Du wirst das hier brauchen.“
Thor sah seine Hand an, als er etwas um sein Handgelenk spürte. Er sah, wie seine Mutter einen breiten Armreif umlegte, der seinen halben Unterarm bedeckte. Er bestand aus glänzendem Gold mit einem einzelnen, schwarzen Diamanten in der Mitte. Es war das schönste, mächtigste Ding, das er je gesehen hatte, und als sich um seinen Arm schloss, spürte er, wie die Macht des Armreifs pulsierte und in ihn eindrang.
„Solange du das hier trägst“, sagte sie, „kann kein Mann der aus dem Schoss einer Frau hervorgegangen ist, dir ein Leid zufügen.“
Thor sah sie an, und vor seinem geistigen Auge blitzten die Bilder wieder auf, die er vor dem kristallenen Fenster gesehen hatte. Er spürte wieder den Drang Guwayne, Gwendolyn und sein Volk zu retten.
Doch ein Teil von ihm wollte diesen Ort nicht verlassen, diesen Ort seiner Träume, zu dem er nie wieder zurückkehren konnte. Er wollte seine Mutter nicht hier zurücklassen.
Er sah den Armreif an, und spürte seine überwältigende Macht. Er hatte das Gefühl, als würde er einen Teil seiner Mutter bei sich tragen.
„Ist das der Grund, warum es uns bestimmt war, uns zu begegnen?“, fragte Thor. „Damit ich den Armreif bekomme?“
Sie nickte.
„Und aus einem noch viel wichtigeren Grund“, sagte sie. „Um meine Liebe zu empfangen. Als Krieger musst du lernen zu hassen. Doch genauso wichtig ist es, dass du lernst zu lieben. Die Liebe ist die stärkere der beiden Mächte. Hass kann einen Mann töten, doch Liebe kann ihn aufrichten. Es bedarf stärkerer Macht zu heilen, als zu töten. Du musst den Hass kennen, doch auch die Liebe darf dir nicht fremd sein – und du musst lernen, wann du das eine oder das andere wählen musst. Du musst nicht nur lernen zu lieben, vielmehr noch musst du lernen, dir zu erlauben, Liebe zu empfangen. Genauso wie wir Nahrung brauchen um zu leben, brauchen wir Liebe. Du musst wissen, wie sehr ich dich liebe, wie stolz ich auf dich bin, und dass ich immer bei dir sein werde. Und du musst wissen, dass wir uns wieder begegnen werden. In der Zwischenzeit, lass zu, dass meine Liebe dich trägt. Und noch viel wichtiger: akzeptiere und liebe dich selbst.“
Thors Mutter umarmte ihn. Es fühlte sich so gut an, sie in den Armen zu halten, zu wissen, dass er eine Mutter hatte, eine echte Mutter. Während er sie festhielt, spürte er, wie ihre Liebe ihn erfüllte, ihn nährte, und er fühlte sich wie neu geboren – bereit, sich zu allem stellen, was das Schicksal für ihn bereithielt.
Thor blickte ihr in die Augen. Sie sahen genau wie seine Augen aus: grau und leuchtend. Sie legte beide Hände um seinen Kopf und küsste seine Stirn. Thor schloss die Augen und wünschte sich, dass dieser Augenblick niemals enden würde.