Als die Soldaten vor ihnen hielten und eine Gasse bildeten, blieb Caitlin wie angewurzelt stehen.
Da in der Mitte der Truppe, vom Pferd steigend, waren zwei der Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte. Sie konnte es nicht glauben. Sie blinzelte mehrmals. Sie waren es wirklich.
Vor ihr stehend und sie angrinsend waren Sam und Polly.
*
Caitlin und Sam traten beide vor die beiden großen Kriegertrupps und nahmen einander fest in die Arme. Caitlin fühlte sich so erleichtert, ihren Bruder im Arm zu halten, ihn zu drücken, zu sehen und spüren, dass er am Leben war, und wirklich hier. Dann ging sie zu Polly und umarmte sie, während Caleb selbst vortrat und sowohl Sam als auch Polly umarmte.
„Polly!“, schrie Scarlet auf und lief herüber, mit Ruth, die an ihrer Seite bellte. Polly kniete nieder und nahm sie fest in den Arm, und hob sie hoch.
„Ich habe schon geglaubt, ich sehe dich nie wieder!“, sagte Scarlet.
Polly strahlte. „So schnell wirst du mich nicht los!“
Ruth bellte, und Polly kniete nieder und drückte sie, während Sam Scarlet umarmte.
Caitlin badete in dem warmen Gefühl, ihre Familie und ihre Liebsten wiedervereint zu sehen. Sie dachte an London zurück, als alle krank und am Sterben waren, an die Zeit, in der sie sich nicht mehr vorstellen konnte, dass eine glückliche Szene wie diese je wieder möglich sein würde. Sie fühlte sich so dankbar, dass alles wiederhergestellt zu sein schien, und staunte darüber, wie viele Lebzeiten sie schon durchlebt hatte. Es machte sie so dankbar für ihre Unsterblichkeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie mit nur einem Leben machen würde.
„Was ist mit euch passiert?“, fragte Caitlin Sam. „Als ich euch zuletzt gesehen habe, habt ihr mir versprochen, Caleb und Scarlet nicht von der Seite zu weichen. Und als ich zurückkam, wart ihr weg.“
Caitlin war immer noch verärgert über ihren Verrat.
Sam und Polly blickten beschämt zu Boden.
„Es tut mir so leid“, sagte Sam. „Es war meine Schuld. Polly war entführt worden, und ich bin weg, um sie zu retten.“
„Nein, es ist meine Schuld“, sagte Polly. „Sergei hatte behauptet, dass es ein Heilmittel gab, und dass ich mit ihm gehen musste, um es zu bekommen. Ich war so dämlich – ich habe ihm geglaubt. Ich dachte, ich würde sie retten. Aber ich habe mein Versprechen an dich gebrochen. Kannst du mir je vergeben?“
„Und mir?“, fragte Sam.
Caitlin blickte ihnen beiden ins Gesicht und konnte ihre absolute Ernsthaftigkeit sehen. Ein Teil von ihnen war immer noch gekränkt, dass sie ihr Wort gebrochen hatten und Scarlet und Caleb einem Angriff so ausgeliefert zurückgelassen hatten. Doch ein anderer Teil von ihr, der Teil, der sich entwickelte, sagte ihr, sie solle ihnen vollständig vergeben und es gut sein lassen.
Sie holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, es gut sein zu lassen. Sie atmete aus und nickte.
„Ja, ich vergebe euch beiden“, sagte sie.
Sie beide lächelten zurück.
„Du magst ihnen vielleicht vergeben“, sagte König McCleod plötzlich, während er vom Pferd stieg und vor sie schritt, „aber ich vergebe ihnen nicht dafür, dass sie meine Männer so bloßgestellt haben!“, sagte er und stieß ein herzhaftes Lachen aus. „Besonders Polly. Ihr beiden bringt Schande über meine feinsten Krieger. Wir haben sichtlich viel von euch zu lernen, so wie wir von den anderen gelernt haben. Vampire gegen Menschen. Ist nie fair“, sagte er, und schüttelte den Kopf mit einem weiteren herzhaften Lachen.
McCleod trat auf Caitlin und Caleb zu. Caitlin mochte ihn sofort. Er lächelte so bereitwillig, hatte ein tiefes, tröstliches Lachen, und schien jeden um sich dazu zu bringen, sich wohl zu fühlen.
„Willkommen auf unserer Insel“, sagte er, nahm Caitlins Hand und küsste sie mit einer Verbeugung. Dann schüttelte er herzhaft Calebs Hand. „Die Insel Skye. Es gibt auf Erden keinen anderen Ort wie diesen. Verzweifelte Heimat der größten Krieger. Diese Burg ist schon seit hunderten Jahren im Besitz meiner Familie. Ihr könnt hier wohnen. Aiden wird begeistert sein. So wie meine Männer. Ich heiße euch offiziell willkommen!“, rief er aus, und seine Männer jubelten.
Caitlin fühlte sich von seiner Gastfreundschaft überwältigt. Sie wusste kaum, wie sie reagieren sollte.
„Es ist uns eine große Freude“, sagte sie.
„Und wir danken Euch für Eure Großmütigkeit“, sagte Caleb.
„Bist du ein König?“, fragte Scarlet und trat vor. „Gibt es hier eine echte Prinzessin?“
Der König blickte hinunter und brach in schallendes Gelächter aus, lauter und tiefer als zuvor. „Also, ich bin in der Tat ein König – aber hier gibt es fürchte ich keine Prinzessin. Nur uns Männer. Aber vielleicht kannst du dem abhelfen, meine Schöne!“, sagte er mit einem Lachen, hob Scarlet hoch und wirbelte sie herum. „Und wie ist wohl dein Name?“
Scarlet wurde rot, plötzlich schüchtern.
„Scarlet“, sagte sie und blickte zu Boden. „Und das ist Ruth“, sagte sie und deutete hinunter.
Ruth bellte wie zur Antwort, und McCleod setzte sie lachend ab und streichelte Ruth übers Fell.
„Ich bin sicher, ihr seid alle am Verhungern“, sagte er. „Auf zum Schloss!“, rief er. „Es ist Zeit zu feiern!“
Alle seine Männer jubelten auf, drehten sich im Einklang herum und brachen zum Eingang zur Burg auf. Dabei standen reihenweise die Wachen stramm.
Sam legte einen Arm um Caitlins Schulter, und Caleb um Pollys, und gemeinsam gingen sie auf den Burgeingang zu. Caitlin wusste, dass sie das nicht tun sollte, doch trotz allem ließ sie die Hoffnung zu, dass, wieder einmal, sie diesmal ein dauerhaftes Zuhause gefunden hatten, einen Ort auf der Welt, an dem sie alle endlich für immer in Frieden leben konnten.
KAPITEL SECHS
Es war die herzlichste und aufwendigste Begrüßung, die Caitlin sich nur vorstellen hätte können. Ihre Ankunft war wie eine einzige lange Feier gewesen. Sie waren einem Clansmitglied nach dem anderen über den Weg gelaufen, und sie sah Gesichter, die sie schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte – Barbara, Cain und viele andere. Sie alle hatten sich zum Mittagessen an einer riesigen Bankett-Tafel eingefunden, in der warmen Burg aus Stein, mit Fellen unter ihren Füßen, Fackeln an den Wänden, einem prasselnden Kaminfeuer und umherlaufenden Hunden. Der Raum fühlte sich warm und gemütlich an, und Caitlin erkannte, dass es draußen schon kalt war – Ende Oktober, hatte man Caitlin gesagt. Im Jahr 1350. Caitlin konnte es nicht glauben. Sie war beinahe siebenhundert Jahre vom 21. Jahrhundert entfernt.
Sie hatte sich immer vorgestellt, wie es sei würde, in dieser Zeitepoche zu leben, in der Zeit von Rittern, Rüstungen, Burgen…doch sie hatte es sich nie auch nur annähernd so vorgestellt. Trotz der völlig anderen Umgebung, dem Fehlen von großen Städten, waren die Leute dennoch sehr herzlich, sehr intelligent und sehr menschlich. Auf viele Arten nicht so anders wie die Leute aus ihrer eigenen Zeit.
Caitlin fühlte sich in dieser Zeit und an diesem Ort zu Hause. Sie hatte stundenlang mit Sam und Polly geplaudert, ihre Geschichten gehört, ihre Version dessen, was in England passiert war. Sie hatte voller Entsetzen vernommen, was zwischen Sergei und Polly vorgefallen war, und war so stolz auf Sam, dass er sie gerettet hatte.
Und die ganze Nacht hindurch konnte sie nicht umhin, zu bemerken, dass Sam kaum seine Augen von Polly nahm. Als große Schwester nahm sie wahr, dass in seinem Inneren eine große Weiterentwicklung stattgefunden hatte. Endlich schien er reifer, und erstmals wahrhaftig und völlig verliebt.
Und doch schien Polly diesmal ein wenig ausweichender. Caitlin fand es schwieriger, genau herauszulesen, wie sie gefühlsmäßig zu Sam stand. Vielleicht lag es daran, dass Polly zurückgezogener war. Oder vielleicht lag es dran, dass es Polly diesmal wirklich etwas bedeutete. Caitlin konnte spüren, tief drin, dass Sam ihr die Welt bedeutete, und dass sie besonders vorsichtig war, ihre Gefühle nicht offenzulegen, oder es nicht zu vermasseln. Caitlin fiel auf, dass hin und wieder, wenn Sam nicht hinschaute, Polly ihm verstohlen einen Blick zuwarf. Doch dann wandte sie rasch die Augen ab, damit Sam sie nicht dabei erwischen konnte, wie sie ihn ansah.