Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке - Захар Прилепин страница 6.

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Wenja schien hingegen nicht einmal die gebrochene Nase aufzuregen, und glucksend fragte er: »Was wurde angerichtet?«

»Das alles, habt ihr das angerichtet?«

»Wer soll das denn angerichtet haben?«, fragte Wenja nach, als würde es ihn ernsthaft beschäftigen.

In diesem Moment schwenkte eine Kamera direkt auf Wenja, und der Milizionär drängte die Journalisten fluchend zur Seite.

»Hör mal, bind mich los, damit ich wenigstens das Blut abwischen kann«, nützte Wenja die Situation aus. »Sonst brummen sie euch Gewalt gegen einen Minderjährigen auf[46]. Meine Nase ist gebrochen. Ich werde Beschwerde gegen euch einreichen[47].«

»Ich scheiß auf deine Beschwerde. Verstanden?«, brauste der Milizionär auf. »Schreib nur, das ist mir egal. Ich werde dir auf der Station noch den Arsch aufreißen.«

Wenja spuckte rot aus und verstummte.

Die Jungs des »Sojus Sosidajuschtschich« wurden aus dem Torweg abgeführt – manchmal drei, vier Leute, manchmal gleich zehn auf einmal.

Fast alle Verhafteten waren geprügelt worden, hatten rote, blutige Ergüsse, schwer verkrustete Augen, aufgeschwollene Nasen und zerschlagene Lippen.

Ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ganz blass war, mit zitternden Backenknochen, einknickenden Beinen und einem dicken, schmutzig-blutigen Klumpen im Genick bot einen schrecklichen Anblick. Er wurde am Arm gestützt.

Bei vielen war die Kleidung zerrissen. Man konnte die jugendlichen, dünnen Körper sehen.

Sascha kannte sie alle – wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen[48].

Irgendwer versuchte herumzualbern, aber die Milizionäre brüllten durchdringend, und befahlen, das Maul zu halten[49].

Kurz darauf wurde noch ein ganzer Haufen »in Gefangenschaft« genommen, sechzig, siebzig Personen. Der Großteil war ohne Handschellen.

»Los, unseren nehmen wir auch die Armbänder ab«, sagte der Milizionär mit Atemnot zu seinen Kollegen.

»Wozu?«, fragte einer der Untergebenen.

»Das müssen wir.«

Der Untergebene zuckte verständnislos mit den Schultern, und der Vorgesetze musste es erklären: »Verprügelt haben sie die ›Kosmonauten‹, aber wir müssen sie am Posten abliefern. Der da, bei dem ist vielleicht die Nase gebrochen, das müssen wir dann rechtfertigen. Diese Scheiße braucht keiner. Verstanden? Wir bringen sie zur Sammelstelle – und Tschüss.«

Sie holten Saschka, Ljoschka und Wenja aus der Menge, die sich gebildet hatte, um ihnen die Handschellen abzunehmen. Sie führten sie lange herum, fanden die Schlüssel nicht, und fluchten leise.

Sascha leckte seine Lippe ab. Wenja gelang es nicht, das Blut zu stoppen, es trocknete auf seinem Bart zu einer schwarzen Kruste. Ljoschka beobachtete alles aufmerksam und behinderte sie ganz offensichtlich beim Abnehmen der Handschellen, indem er hin und her ging und die Hände zurückzog.

»Arschloch, steh ruhig!«, schrien sie ihn an. Ljoschka erstarrte.

»Vorwärts, Laufschritt Marsch!«, befahlen sie ihnen.

Die Jungs trudelten im Laufschrit[50]t zu den ihrigen, die – in einer Entfernung von dreißig, vierzig Metern – vorweggingen. Die Festgenommenen wurden von Leuten in Armeemänteln und mit Kappen dicht umstellt.

»Wir müssen abhauen«[51], sagte Ljoschka leise, als sie sich von den Männern vom Patrouillendienst, die die Handschellen in ihre Gürteltaschen packten, entfernt hatten.

»Probieren wir’s«, antwortete Wenja.

»Los«, sagte Sanja, und sie tauchten – als könnte es gar nicht anders sein – leicht und frei – in die nächste Gasse ab, auf halber Strecke zu den Gefangenen, die schon in einer Kolonne zusammengetrieben waren.


Als sie an Geschwindigkeit gewonnen[52] hatten, hatte Sascha ein Gefühl, als würde er auf einer Schaukel immer höher und höher gezogen und schließlich losgelassen.

In der Nähe blitzte eine Rasenfläche auf (fast wäre er hingefallen, er stützte sich mit den Händen wie ein Affe ab, riss sich die Handfläche am Schotter auf, was für ein Schotter, woher?), ein Fenster, noch eins; ein Kinderwagen, eine Frau, die ihn schiebt (die vor Wenjas vertrocknet-blutiger Visage zurückschreckte) und um die Ecke bog, ein aus dem Hof fahrendes Patrouillenauto der Miliz (»… nicht bemerkt? Hätten ihnen direkt … in die Hände laufen können …«), eine Bank (warum auch immer quer über die Straße), ein Zaun (»Komm nicht drüber … zu hoch«).

Sekündlich schien ihm, die Bewegung der Schaukel müsse jetzt, gleich jetzt ihren Höhepunkt erreichen, und ihn jemand am Genick packen und zurückreißen, unaufhaltsam.

… Sascha sprang von der Mauer und fiel, überschlug sich.

»Wirklich, es ist sehr hoch, wie bin ich da hinauf …«

Daneben fiel – warum auch immer auf allen vieren – Wenja herunter, mit seinem schwarzen, struppigen und blutigen Bart.

Nur Rogow stand auf den Beinen, setzte sich und richtete sich sofort wieder auf.

Rogow fasste Wenja am Kragen, der stampfte mit den Beinen – stand auf und lief weiter.

Hustend und schnaubend – lange, zähe, süß-saure Speichelfäden hinter sich herziehend – stürmten sie durch die Höfe, bis sie keine Kraft mehr hatten und sich völlig erschöpft im Eingang einer »Chruschtschowka«

*

Sie knieten auf allen vieren, mit trüben Augen, geschlossenen Mündern, versuchten vergeblich zu atmen. Aus dem Mund troff Speichel. Jemand betrat den Eingang, aber es war ihnen nicht peinlich …


»Sohn, du …warst in Moskau?« Mutters Stimme klang durch das Telefon verzweifelt und traurig.

Sascha hätte am liebsten sein Gesicht zerkratzt, als er diese Stimme hörte.

»War ich«, antwortet er dumpf, und zog dabei die zerschlagene Lippe hoch, weshalb das Wort »war« wie »ar« klang.

»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben«[53], sagte seine Mutter, und in ihrer Stimme klang noch die Hoffnung durch, dass Sascha sie umstimmen könnte, sagen würde, all das sei nicht wahr und er habe nichts Schlimmes gemacht.

»So … ein Unsinn …«, antwortete er.

Kapitel 2

Sascha trennte sich von Wenja und Ljoschka an der Metro. Sie hatten entschieden, dass sie einzeln weniger Verdacht erregen würden.

Er fuhr aus Moskau in seine Provinzstadt – fünf hundert Werst von der Hauptstadt entfernt – mit der Elektritschka

*

Die Stadt hatte sich als schwach erwiesen, wie Spielzeug, sie zu zerbrechen war genauso sinnlos wie Spielzeug zu zerbrechen: Drinnen war nichts – es war nur leeres Plastik. Und das kindliche Gefühl des Triumphes, dieses überwältigende Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, kam daher, dass alles viel einfacher war, als es schien …

Immer wieder kamen Kontrolleure vorbei, Sascha ging auf die Plattform, beäugte durch das trübe Glas ihre blaue Kleidung, die strengen Gesichter. Beim nächsten Halt lief er über den Bahnsteig am Waggon mit den Kontrolleuren vorbei und setzte sich wieder in die Ecke.

Manchmal saugte er an der zerschlagenen Lippe, sie brannte mittlerweile schon nicht mehr so schmerzhaft – sie heilte wie bei einer Katze.

Der Zug schien lautlos zu fahren, Sascha hörte nichts.

Hinter dem Fenster zogen Verwahrlosung und Trostlosigkeit vorbei. Er spiegelte sich im Glas – kurze Haare mit einem widerspenstigen Schopf, unrasiertes Kinn, dunkle Haut, die Stirn in frühen Falten … Ein gewöhnliches Gesicht.

Sascha kam in seiner Stadt an, die Türen des Zuges klappten hinter ihm zu, als wäre er ein Überbleibsel, das einfach abgeschnitten wurde.

Den blödsinnigen Gedanken, im Treppenhaus würde schon ein Hinterhalt auf ihn warten, verscheuchte er (»… da sie im ganzen Lande Fallen errichtet haben«), und lief ins Haus.

Das Schloss machte das übliche Geräusch, ein weiches Klicken. Die Tür ging auf.

Die Mutter arbeitete in der Nachtschicht, die Wohnung war leer.

Sascha rief einen Bekannten an und bat ihn, ihn ins Dorf zu bringen. Der Mann antwortete missmutig: »Ich fahre heute«.

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