Иличевский Александр Викторович - Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке стр 2.

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Er wohnte jetzt schon das dritte Jahr in diesem Haus, in einer Eigentumswohnung, für die der Kredit noch nicht abbezahlt war. Er, der seine Kindheit im Internat, seine Jugend im Studentenwohnheim verbracht und Unbehaustheit im Laufe seines Lebens heftig zu spüren bekommen hatte, mal bei Freunden untergekommen und von den Freundesfreundinnen wieder vertrieben worden war, mal in Mietwohnungen oder Wohnungen von Freundinnen, die dann doch keine Ehefrauen wurden, mehr als einmal wegen Wohnungsreibereien die Nacht auf Bahnhöfen verbrachte hatte, wo er davon träumte, eine Reise in ein neues Leben anzutreten, oder bis zum Morgen auf dem Boulevardring spazieren gegangen und im Morgengrauen auf einer Bank eingeschlafen war – er hatte die Obdachlosen anfangs freundlich aufgenommen. Er hatte sich so sehr über seine Wohnung gefreut, über die eigenen vier Wände, dass es ihm unmöglich schien, nicht wenigstens ein kleines bisschen seiner Sesshaftigkeit mit ihnen zu teilen, und sei es nur indirekt. Er brachte ihnen Zeitungen als Schlafunterlage, schenkte Tee in Plastikbechern aus[6] und bat sie, sauberzumachen, die durchgeweichten Zeitungen, die Pappen und Lumpen fortzuschaffen, keine leeren Flaschen oder stinkenden Müll liegenzulassen. Er besänftigte die Nachbarin von unten, eine langnasige alte Syrerin, die fluchte, warum er sie auch noch anlocke, die würden hier doch sogar ihr Geschäft verrichten und nicht wegmachen.

»Aber hören Sie mal, Nailja Iossifowna, wie kann man denn jemanden, der kaum noch lebt, in die Kälte hinausjagen? «, versuchte Koroljow sie zur Vernunft zu bringen[7], und das stinkende gesichtslose Wesen auf dem Treppenabsatz begann zu brummeln. »Der schafft es doch nicht mal bis zum Bahnhof, außerdem lassen sie ihn da eh nicht rein, in die Metro lassen sie ihn auch nicht, und im Nachtasyl nehmen sie nur Nüchterne. Wenn Sie die Bullen rufen, die prügeln ihn entweder zu Tode oder jagen ihn aus dem Haus. Sie wollen sich doch nicht versündigen?«

Die Alte winkte ab, schnaubte und schloss die knirschende Tür. Koroljow, der den Atem anhielt, aber bald krampfhaft zur Seite nach Luft schnappen[8] musste, bat daraufhin die Obdachlosen, doch wenigstens nicht ins Treppenhaus zu machen. Die brummelten wieder etwas, wälzten sich dabei auf dem Boden herum, klirrten mit Flaschen, raschelten mit Zeitungen, und erneut nahm Koroljow dies aus irgendeinem Grund als Zeichen des Einvernehmens, doch am Morgen sah er, wie der trübsinnige usbekische Hausmeister mit einer Wäschezange die Hinterlassenschaften der Obdachlosen in einen Sack stopfte.

Koroljow hielt sich die Nase zu und steckte dem stummen Usbeken im Vorbeigehen einen Schein zu, rannte nach unten, und während er bei Eiseskälte in seinem reifbedeckten Wagen schlotterte, unter dessen Haube ein nicht warm werden wollender Motor klopfte und pochte, redete er sich ein, dass es für geschwächte, berauschte Menschen schwer, ja geradezu unmöglich sei, sich schlaftrunken aufzurappeln und aus dem Warmen in die Kälte hinunterzusteigen, um die Notdurft zu verrichten.

Mit der Gastfreundschaft war es für ihn dann nach zwei Vorfällen im letzten Winter vorbei gewesen: Ein großer Haufen Scheiße auf der Treppe und eine Prügelei der Obdachlosen untereinander samt dreister Bullen, Blutlache und zurückgelassenem Schustermesser.

Am Abend desselben Tages hatte er auf dem geschrubbten Treppenabsatz die dicke Alte vorgefunden. Er brüllte sie an und stampfte mit dem Fuß auf. Er schrie, sie solle auf der Stelle verschwinden, wählte auf dem Handy die 02, aber da war besetzt, er brüllte wieder, rannte die Treppe hinauf zu seiner Wohnung und wieder runter. Die Alte rappelte sich auf, ächzte, drehte sich um, und der durch die Bewegung aufgewirbelte Gestank verschlug ihm den Atem, zog ihm den Boden unter den Füßen weg, er sank in sich zusammen und verstummte. Da trat Nailja Iossifowna aus der Tür, sie hielt ihren Kittel am Kragen zu und rief mit drohender Geste:

»Ruhe! Ruuuhe!«

Und versteckte sich sofort wieder hinter ihrer Tür.

Koroljow hatte in ihren riesigen Basedow’schen Augen Tränen stehen sehen.

Unter dem anschwellenden Geknurre der Pennerin beeilte er sich zu verschwinden.

III

Trotz der regelmäßig eingesauten Fußabtreter, die er aus Resten der beim Renovieren übriggebliebenen Auslegware zuschnitt, vertrieb er die Obdachlosen nie.

Anfangs hatte er sie stillschweigend Nailja Iossifowna überlassen. Doch die konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu unternehmen. Dann wartete er darauf, dass jemand anders im Haus gegen die Obdachlosen zu Felde ziehen würde[9]. Aber die übrigen Bewohner des zweiten und dritten Stocks gingen entweder früh zu Bett und standen spät auf, oder sie verließen die Wohnung monatelang überhaupt nicht und interessierten sich daher nicht für den Zustand des Treppenhauses.

Ein Stockwerk höher stand eine Wohnung leer, Makler führten ihre verängstigten Kunden hinauf. Daneben war eine Prostituierte eingezogen, die aussah wie eine Schauspielerin aus einem italienischen 50er-Jahre-Film über ein Fischerdorf. Koroljow hatte den Film als Kind mehrmals gesehen – im Internat wurden samstags immer irgendwelche alten Filme angeschleppt. Gezeigt wurden sie im Speisesaal. Der Filmvorführer knutschte auf der Fensterbank mit der Krankenschwester und reagierte nicht gleich, wenn es pfiff und tönte: »He, du Depp! Weiter!« In den quälenden Pausen zwischen den knisternden Küssen war zu hören, wie der Film surrte und ruckartig an den Spulen zerrte, wie eine Maus herumtrippelte und ein Stück Brotrinde die Scheuerleiste entlangjagte.

Auf der geflickten Leinwand zog ein Mädchen von unendlicher Schönheit, das Haar vom Wind zerzaust, im engen Matrosenhemd, unter dem sich die Brüste drängten, bis zum Knie in schäumender Brandung, ein Fischerboot ins tiefe Wasser, kletterte hinein, entrollte das Segel, und Koroljow stockte der Atem[10].

Zwei Puffmütter mit zerknittertem, aber professionellem Gesichtsausdruck und klimperndem Schlüsselbund brachten der Nachbarin reiche Kunden ins Haus. Diese agilen, wachsamen Brünetten hatten gepflegte, sonnengebräunte Haut, kauten nervös Kaugummi, quietschten weich in ihren Krokodilmokassins, ließen ihre Uhren unter den Aufschlägen hervorblitzen und die Schnallen ihrer Aktentaschen aufblinken und hinterließen in der Luft ein feines Duftornament. Haut und Kleidung entstammten einer anders begüterten Welt – einer Welt voller Massageglanz, Lackfältchen und Gesichtspflege.

Abends kam die junge Frau herunter. In einen kurzen Pelz gehüllt, die Schuhe an den bloßen Füßen, trottete sie zerstreut durch den Matsch zur Krasnaja Presnja. Die Passanten drehten sich nach ihr um und verlangsamten den Schritt. Koroljow war ihr einige Male nachgegangen, er hatte dann lange auf dem Gehweg gestanden und durch das Fenster eines japanischen Restaurants ihr Profil betrachtet, während sie die Speisekarte studierte, Sushi kaute, sich zerstreut die wirren Haare richtete, die vollen, zarten Lippen ein wenig öffnete und mal den Raum, mal das unter der Theke angebrachte Aquarium mit den beiden streitenden Buntbarschen betrachtete.

In der dritten Wohnung lebte zusammen mit seinem betagten Vater ein stiller, drahtiger junger Mann mit Downsyndrom. Sie kannten sich eigentlich nicht, doch wenn sie sich begegneten, rief er munter »Hallöchen, wie geht’s?« und streckte Koroljow die kräftige Hand hin. Der junge Nachbar schleppte ständig irgendetwas die Treppen rauf und runter, mal Kartoffelsäcke, mal Zwiebelnetze, mal Hanteln, mal Kugellager verschiedener Kaliber, die auf einem Draht aufgefädelt waren wie Gebäckkringel. Einmal war ihm ein solches Bund gerissen und die Kugellager mit schrecklichem Radau die Stufen hinuntergerollt. Der Junge bekam einen Schreck und lief weg. Koroljow sammelte die Ringe im ganzen Treppenhaus ein und legte sie aufs Fensterbrett. Seither lagen sie dort, mittlerweile verrostet und mit Zigarettenstummeln gespickt.

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