Gwen war tief gerührt von seinen Worten und eine Träne rollte ihr über die Wange. Seine Worte waren genau das, was sie jetzt brauchte, und sie war so dankbar dafür. Ihr Verstand sagte ihr, dass er recht hatte.
Doch es fiel ihr schwer, es zu fühlen. Sie hatte das Gefühl, dass ein Teil von ihr für immer beschädigt war. Sie wusste, dass dem nicht so war, doch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln.
Aberthol lächelte, während er ein kleineres Buch hervorzog.
„Erinnerst du dich an das hier?“, fragte er und schlug den ledernen Einband auf. „Das war deine ganze Kindheit lang dein Lieblingsbuch. Die Legenden unserer Väter. Da gibt es eine ganz besondere Geschichte und ich dachte mir, ich könnte sie dir vorlesen, um dir etwas die Zeit zu vertreiben.“
Gwen war gerührt von seiner Geste, aber sie konnte nicht mehr. Traurig schüttelte sie den Kopf.
„Ich danke dir“, sagte sie mit erstickter Stimme, während eine weitere Träne über ihre Wange lief. „Aber ich kann nicht…“
Er sah enttäuscht aus. Doch dann nickte er. Er verstand sie.
„Ein anderes Mal“, sagte sie niedergeschlagen. „Ich wäre jetzt lieber alleine. Könntet ihr mich bitte allein lassen? Alle?“, sagte sie und wandte sich Steffen und Illepra zu.
Sie standen auf und neigten den Kopf. Dann drehten sie sich um und eilten aus dem Raum.
Gwen fühlte sich schuldig, doch sie konnte nicht anders; sie wollte sich in eine Ecke verkriechen und sterben. Sie hörte ihre Schritte, hörte wie sich die Tür hinter ihnen schloss und blickte auf um sicherzugehen, dass der Raum leer war.
Zu ihrer Überraschung war er es nicht: Eine einzelne Figur stand aufrecht im Schatten des Eingangs. Langsam und würdevoll ging sie auf Gwen zu, blieb einen Meter vor ihrem Bett stehen und sah ausdruckslos auf sie herab.
Ihre Mutter.
Gwen war überrascht, sie hier zu sehen, die ehemalige Königin, so würdevoll und stolz wie eh und je, die kühl und ausdruckslos wie immer auf ihre Tochter herabsah. In ihren Augen war kein Mitgefühl, so wie sie es in denen ihrer anderen Besucher gesehen hatte.
„Warum bist du hier?“, fragte Gwen.
„Ich bin gekommen, um dich zu sehen.“
„Aber ich will dich nicht sehen“, sagte Gwen. „Ich will niemanden sehen.“
„Es ist mir egal, was du willst oder nicht“, sagte sie kühl und selbstbewusst. „Ich bin deine Mutter und ich habe das Recht, dich zu sehen, wenn ich es will.“
Gwen fühlte den Alten Zorn auf ihre Mutter wieder aufflackern. Sie war die letzte Person, die sie jetzt sehen wollte. Doch sie kannte ihre Mutter und sie wusste, dass sie nicht gehen würde, bis sie gesagt hatte, was sie sagen wollte.
„Dann sprich“, sagte Gwendolyn. „Sprich und geh, wenn du fertig bist.“
Ihre Mutter seufzte.
„Du kannst es nicht wissen“, sagte ihre Mutter, „doch als ich jung war, etwa in deinem Alter, bin ich auf dieselbe Weise angegriffen worden wie du.“
Gwen sah sie überrascht an. Das hatte sie wirklich nicht gewusst.
„Dein Vater hat es gewusst“, fuhr sie fort. „Und ihm war es egal. Er hat mich trotzdem geheiratet. Doch zu der Zeit, als es passiert ist, hatte ich das Gefühl, dass meine Welt zusammengebrochen war. Doch das war sie nicht.“
Gwen schloss ihre Augen und spürte, wie eine weitere Träne über ihre Wange rollte. Sie versuchte, das Thema zu verdrängen. Sie wollte die Geschichte ihrer Mutter nicht hören. Es war zu spät, um von ihrer Mutter Mitgefühl annehmen zu können. Hatte sie etwa erwartet, dass sie einfach so hier hereinmarschieren könnte, nach so vielen Jahren, in denen sie sie kühl und abweisend behandelt hatte, und dass eine teilnahmsvolle Geschichte alles wieder gutmachen würde?
„Bist du fertig?“, fragte Gwendolyn.
Ihre Mutter trat vor. „Nein, ich bin nicht fertig“, sagte sie bestimmt. „Du bist jetzt die Königin – es ist an der Zeit, dass du dich wie eine verhältst.“ Die Stimme ihrer Mutter war eiskalter. Gwen hörte darin eine Stärke, die ihr noch nie zuvor aufgefallen war. „Du bemitleidest dich selbst. Doch jeden Tag, überall auf der Welt, müssen Frauen ein viel schlimmeres Schicksal erleiden als du. Was dir passiert ist, ist bedeutungslos, wenn man das Gesamtbild betrachtet. Verstehst du mich? Es ist nichts.“
Ihre Mutter seufzte.
„Wenn du in der Welt der Macht überleben willst, musst du stark sein. Stärker als die Männer. Die Männer werden dich auf die eine oder andere Weise kriegen. Es geht nicht darum, was mit dir geschieht – es geht darum, wie du es wahrnimmst. Wie du darauf reagierst. Das ist das, worüber du die Kontrolle hast. Du kannst dich zurückziehen und sterben. Oder du kannst stark sein. Das unterscheidet die Mädchen von den Frauen.“
Gwen wusste, dass ihre Mutter versuchte, ihr zu helfen. Doch ihrem Versuch fehlte jegliche Form des Mitgefühls. Gwen hasste Vorträge dieser Art.
„Ich hasse dich“, sagte Gwendolyn. „Ich habe dich schon immer gehasst.“
„Das weiß ich“, sagte ihre Mutter. „Und ich hasse dich genauso. Doch das heißt nicht, dass wir einander nicht verstehen können. Ich will deine Liebe nicht – ich will, dass du stark bist. Diese Welt wird nicht von schwachen oder ängstlichen Menschen regiert – sie wird von jenen regiert, die wenn es hart auf hart kommt, den Kopf schütteln, als wäre nichts geschehen. Du kannst zusammenbrechen und sterben, wenn du das willst. Es ist genug Zeit dafür. Doch das ist langweilig. Sei stark und lebe. Lebe in vollen Zügen. Sei ein Beispiel für andere. Denn eines Tages wirst du ohnehin sterben. Daher solltest du, solange du noch atmest, auch wirklich leben.“
„Lass mich in Ruhe!“, schrie Gwendolyn. Sie konnte kein weiteres Wort mehr ertragen.
Ihre Mutter starrte mit kaltem Blick auf sie herab, und endlich, nach unbehaglichem Schweigen, drehte sie sich um und ging aus dem Raum, stolz wie ein Pfau, und schlug die Tür hinter sich zu.
In der Stille begann Gwendolyn zu weinen. Sie weinte und weinte. Sie wünschte sich mehr denn je, dass alles vorüber wäre.
KAPITEL SECHS
Kendrick stand auf der breiten Plattform am Rande des Canyons und ließ den Blick über die Nebelwirbel schweifen. Als er in die Weite des Canyons hinausblickte, brach sein Herz. Es zerriss ihn, seine Schwester so zu sehen, und er fühlte sich, als wäre er selbst angegriffen worden. Er hatte bei ihrer Rückkehr in den Gesichtern der Silesier gesehen, dass sie in ihr mehr sahen als nur ihre Anführerin – sie sahen sie als Mitglied ihrer eigenen Familie. Auch sie waren niedergeschlagen. Als ob Andronicus ihnen allen Leid zugefügt hätte.
Kendrick fühlte sich schuldig. Er hätte wissen müssen, dass seine jüngere Schwester etwas Derartiges tun würde. Er wusste, wie stolz und mutig sie war. Er hätte ahnen müssen, dass sie versuchen würde, sich selbst zu opfern, bevor jemand auch nur die Chance hätte, sie aufzuhalten. Und er hätte einen Weg finden müssen, um sie aufzuhalten. Er kannte ihre Natur, wusste wie vertrauensselig sie war, wusste, dass sie ein gutes Herz hatte – und als Krieger wusste er, wie brutal manche Anführer sein konnten. Er war älter und erfahrener als sie und er hatte das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
Kendrick fühlte sich auch schuldig dafür, welche Last man in dieser aussichtslosen Situation auf die Schultern einer einzigen Person, einer neu gekrönten Königin, einem sechzehnjährigen Mädchen, gelegt hatte. Sie hätte die Last nicht alleine tragen sollen. Solch eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen, wäre selbst ihm oder seinem Vater nicht leicht gefallen. Gwendolyn hatte unter den gegebenen Umständen das Beste getan, was sie konnte, und vielleicht mehr, als jeder andere von ihnen getan hätte. Kendrick hatte selbst keine Idee, wie sie gegen Andronicus vorgehen sollten. Keiner von ihnen wusste es.