Den Kapitän ergriff eine doppelte Aufregung: erstens war sein Herr unpäßlich; und zweitens näherte sich eben jener Sturm, den er so leichtfertig vorausgelogen hatte. Der Kapitän wußte nicht mehr, um was er sich eifriger kümmern müsse: um den Sturm oder das Unbehagen des Herrn.
Er entschloß sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah zuzuwenden. Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin befohlen hatte, sofort möglichst dicht an die Küste zurückzukehren. Ausgestreckt, in mehrere Decken gehüllt, lag der Schah auf dem Verdeck. Der Leibarzt, den er so haßte und der, seiner Meinung nach, der einzige Mensch war, dem er nie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand gebeugt über dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverständlich war: er flößte dem Schah Baldrian ein. Die ersten, schweren Regentropfen fielen auf den weichen Samt des Zelts, das man um den Schah gebaut hatte. Der Wind ließ leise die Ringe erklirren, die des Zeltes Wände mit den drei metallenen Stäben verbanden. Der Schah fühlte sich wohler. Er wußte, daß es draußen blitzte, und den Donner hörte er mit wonnigem Behagen. Seine Übelkeiten verschwanden, kein Wunder! Das Schiff stand still, kaum zwei Seemeilen von der Küste. Nur das Meer klatschte in regelmäßiger Wut gegen die Flanken.
Dieser Sturm war dem Großwesir als eine besondere Gnade des Himmels geschickt worden. In hurtigen Booten erreichten Sekretäre Konstantinopel, mitten in der Nacht. In den gleichen hurtigen Booten kehrten sie am nächsten Tage, gegen neun Uhr morgens, zurück. Der Schah schlief noch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschafters: in Wien erwarte man die Majestät. Alles wäre zum Empfang bereit …
Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonne leuchtete stark und froh, wie einst, vormals, am ersten Tag ihrer Erschaffung.
Auch der Kapitän leuchtete. Auch der Großwesir leuchtete. Mit Volldampf glitt das Schiff dahin, Europa entgegen.
III
Seine Kaiser- und Königliche Apostolische Majestät empfing die Kunde von dem Besuch des Schahs gegen acht Uhr morgens. Es waren gerade knapp zweihundert Jahre vergangen, seitdem der grausamste aller Mohammedaner gegen Wien herangerückt war. Damals hatte ein wahres Wunder Österreich gerettet. Weit schrecklicher noch als einst die Türken bedrohten jetzt die Preußen das alte Österreich – und obwohl sie fast ungläubiger waren als die Mohammedaner – denn sie waren ja Protestanten –, tat Gott gegen sie keine Wunder. Es gab keinen Grund mehr, die Söhne Mohammeds mehr zu fürchten als die Protestanten. Jetzt brach eine andere, schrecklichere Epoche an, die Zeit der Preußen, die Zeit der Janitscharen Luthers und Bismarcks. Auf ihren schwarzweißen Fahnen – beides Farben der strengen Trauer – war zwar kein Halbmond zu sehn, sondern ein Kreuz; aber es war eben ein eisernes Kreuz. Auch ihre christlichen Symbole noch waren tödliche Waffen.
All dies dachte der Kaiser von Österreich, als man ihm von dem bevorstehenden Besuch des Schahs berichtete. Ähnliches dachten auch die Minister des Kaisers. Man raunte in Wien, man munkelte in den Kanzleien, vor den Türen, hinter den Türen, in den Kabinetten, in den Korridoren, in den Redaktionsstuben, in den Caféhäusern und sogar in den Chambres séeparées. Allenthalben bereitete man sich auf den Besuch des Schahs vor.
Am Tage, an dem der Zug des Schah-in-Schah im Wiener Franz-Josefs-Bahnhof einlief, sperrten vier Ehrenkompanien und zweihundert Wachleute zu Fuß und zu Pferde die Straßen ab. Die fürsorgliche Gastfreundschaft Seiner Kaiser- und Königlichen Apostolischen Majestät hatte dafür gesorgt, daß alle Wagen des Zuges, der den persischen Herrscher nach Wien brachte, weiß gestrichen waren, in einem bräutlichen Weiß, wie das Schiff, das der Schah in Konstantinopel bestiegen hatte. Auf dem Perron stand eine Kompanie des Regiments der Hoch- und Deutschmeister. Der Kapellmeister Josef Nechwal befahl die persische Nationalhymne. Tschinellen und Kesselpauke und die sogenannten Tschandressen machten mehr Lärm, als die persische Nationalhymne unbedingt erfordert hätte. Die Kesselpauke, aufgebürdet auf dem sonst so geduldigen und musikalischen Maulesel, wollte auch nicht zurückbleiben; und der Maulesel bebte von Zeit zu Zeit, er revoltierte gleichsam; aber weder der Pauker merkte es noch der Kapellmeister Josef Nechwal. Der dachte an die Orden im Schaufenster Tillers.
Der Kaiser fühlte sich unbehaglich in der fremden Uniform. Es war überdies heiß: einer jener frühreifen Maitage, die den Hochsommer vorwegzunehmen scheinen. Das Glasdach über dem Perron glühte.
Die Hymne gefiel dem Kaiser durchaus nicht. Mit deutlichem Respekt hörte er sie an – mit ostentativem Respekt …
Als der Schah ausstieg, umarmte ihn der Kaiser flüchtig. Der Schah schritt die Ehrenkompanie ab. Der Kapellmeister kommandierte das »Gott erhalte«. Die Perser erstarrten.
Man stieg in die Kutschen, man fuhr ab. Hinter den blauen Mauern der Soldaten schrien die Leute: »Hoch, hoch, hoch!« Die Rosse der berittenen Polizisten wurden böse, und gegen den Willen der Reiter schlugen sie aus und verletzten zweiundzwanzig Neugierige. Der Polizeibericht im »Fremdenblatt« sprach von »drei Ohnmachtsfällen«.
IV
Diese drei Ohnmachtsfälle störten die Freude der Wiener Bevölkerung an dem großen Schah der Perser keineswegs. Alle Menschen, die seiner Ankunft zugesehen hatten und gesund geblieben waren, auch die der Ohnmacht, kehrten beglückt nach Hause zurück; genauso beglückt, als wenn ihnen persönlich eine Freude beschert worden wäre. Auch die Bahnarbeiter und die Gepäckträger waren glücklich und schwitzten sehr. Denn der große Schah von Persien war mit zahlreichen und schweren Koffern angekommen. Sie füllten nicht weniger als vier normale Lastwaggons, die man aber in Triest vergessen hatte an den bräutlich weißen Hofzug Seiner Majestät anzuhängen. Der Adjutant des Hofzeremonienmeisters, Kirilida Pajidzani, lief den Perron auf und ab. Hinter ihm rannte der Stationsvorstand Gustl Burger einher. Im Amtszimmer des Stationsvorstands steppte unermüdlich der Morseapparat. Der arme Stationsvorstand Burger verstand keinen Ton von dem Französisch, das der Adjutant des persischen Hofzeremonienmeisters daherredete. Der einzige Mensch, der in dieser verzweifelten Situation hätte helfen können, stand beneidenswert gelangweilt vor dem Büfett im Restaurationssaal erster Klasse. Es war der Rittmeister Baron Taittinger, von den Neuner-Dragonern, auf unbestimmte Frist von seinem Regiment detachiert und zugeteilt der Hof- und Kabinettskanzlei zur sogenannten »speziellen Verwendung«. Der Baron lehnte am Büfett, mit dem Rücken zum Fenster, wandte sich aber von Zeit zu Zeit um und betrachtete mit grausigem Behagen den lächerlichen Stationschef und seinen persischen Kameraden, den Kirilida Pajidzani. Taittinger nannte ihn schon im stillen für sich den »Janitscharen«. Die Uhr über dem Büfett zeigte schon die dritte Nachmittagsstunde. Um halb fünf war Taittinger mit der Frau Kronbach verabredet, bei Hornbichl. Ihr Mann war Seidenfabrikant, Kommerzialrat, sie wohnte in Döbling. Frau Kronbach war seine Leidenschaft, so bildete er sich ein. Er hatte sich einmal gesagt, sie wäre seine Leidenschaft, er hatte sie zu seiner Leidenschaft ernannt, und er bewies es sich selbst, indem er ihr treu blieb. Sie war – um es gleich zu sagen – nicht seine erste, sondern seine zweite Leidenschaft.