Sie sitzt den ganzen Tag hinter den Vorhängen. Sie arbeitet unaufhörlich. Erst wenn es dunkel wird, hört sie auf. Freilich wird es sehr früh dunkel in diesen Nebeltagen in der engen Straße. Um fünf Uhr schon haben wir die schönste Dämmerung. Licht habe ich nie gesehen in ihrem Zimmer.
Wie sie aussieht Ja, das weiß ich nicht recht. Sie trägt die schwarzen Haare in Wellenlocken[19]. Sie ist ziemlich bleich. Die Nase ist schmal und klein. Die Flügel bewegen sich. Auch ihre Lippen sind bleich. Es scheint mir, als ob die kleinen Zähne zugespitzt wären wie bei Raubtieren. Die Lider schatten tief. Aber wenn sie sie aufschlägt, leuchten ihre großen, dunklen Augen. Doch fühle ich das alles viel mehr, als ich es wirklich weiß. Es ist schwer, etwas genau zu erkennen hinter den Vorhängen.
Noch etwas. Sie trägt stets ein schwarzes geschlossenes Kleid. Große lila Tupfen sind darauf. Und immer hat sie lange schwarze Handschuhe an. Es sieht seltsam aus, wie die schmalen schwarzen Finger, schnell, scheinbar durcheinander, die Fäden nehmen und ziehen. Wirklich, beinahe wie ein Gekrabbele von Insektenbeinen!
Unsere Beziehungen zueinander. Nun, eigentlich sind sie recht oberflächlich. Doch denke ich, als wenn sie viel tiefer sind. Es fing wohl so an, dass sie zu meinem Fenster hinübersah und ich zu dem ihren. Sie beobachtete mich und ich sie. Und lächelte sie, ich natürlich auch. Das ging so ein paar Tage lang. Immer öfter und öfter lächelten wir uns zu. Dann begann ich stündlich, sie zu grüßen.
Endlich habe ich es doch getan, heute Nachmittag. Und Clarimonde hat wieder gegrüßt. Nur ganz leise freilich. Aber ich habe es wohl gesehen, wie sie genickt hat.
Donnerstag, 10. März.
Gestern bin ich lange aufgesessen über den Büchern. Ich kann nicht gerade sagen, dass ich viel studiert habe. Ich habe Luftschlösser gebaut und von Clarimonde geträumt. Ich habe unruhig geschlafen, bis tief in den Morgen hinein.
Als ich ans Fenster trat, saß Clarimonde da. Ich grüßte und sie nickte wieder. Sie lächelte und sah mich lange an.
Ich wollte arbeiten. Aber fand ich die Ruhe nicht. Ich setzte mich ans Fenster und starrte sie an. Da sah ich, wie auch sie die Hände in den Schoß legte. Ich zog an der Schnur die weiße Gardine zurück und im selben Augenblicke fast tat sie das gleiche. Wir lächelten beide und sahen uns an.
Ich glaube, wir haben wohl eine Stunde so gesessen.
Dann spann sie wieder.
Samstag, 12. März.
Ich esse und trinke. Ich setze mich an den Arbeitstisch. Ich brenne dann meine Pfeife an und beuge mich über ein Buch. Aber ich lese keine Silbe. Ich versuche immer wieder, aber ich weiß zuvor, dass es gar nichts fruchten wird[20]. Dann gehe ich ans Fenster. Ich grüße Clarimonde. Clarimonde dankt. Wir lächeln und starren uns an.
Gestern nachmittag um die sechste Stunde war ich ein wenig unruhig. Die Dämmerung brach sehr früh herein. Ich fühlte eine gewisse Angst. Ich saß an meinem Schreibtisch und wartete. Ich fühlte einen fast unbezwingbaren Drang zum Fenster um Clarimonde anzusehen. Ich sprang auf und stellte mich hinter die Gardine. Nie habe ich sie so deutlich gesehen, trotzdem es schon recht dunkel war.
Sie spann, aber ihre Augen schauten zu mir herüber[21]. Ich fühlte ein seltsames Wohlbehagen und eine ganz leise Angst.
Das Telefon klingelte. Ich war wütend auf den albernen Kommissar. Mit seinen dummen Fragen riss er mich aus meinen Träumen.
Heute morgen besuchte er mich, zusammen mit Frau Dubonnet. Sie ist zufrieden genug mit meiner Tätigkeit. Sie ist zufrieden, dass ich nun schon zwei Wochen lang lebe im Zimmer Nr. 7. Der Kommissar aber will außerdem noch Resultate. Ich habe geheimnisvolle Andeutungen gemacht, dass ich einer höchst seltsamen Sache auf der Spur bin. Dieser Esel hat mir alles geglaubt. Auf jeden Fall kann ich noch wochenlang hier bleiben. Das ist mein einziger Wunsch. Nicht wegen Frau Dubonnets Küche und Keller nur wegen ihres Fensters, das sie hasst und fürchtet, und das ich so liebe. Dieses Fenster, das mir Clarimonde zeigt!
Примечания
1
an drei aufeinanderfolgenden Freitagen в три пятницы, следующие одна за другой
2
musste also eine starke Energie in der Ausführung seiner Absicht betätigt haben должно быть приложил также много усилий для осуществления своего намерения
3
etwas Schriftliches каких-либо записей
4
Fahrradverwandlungskünstler акробат на велосипеде
5
unter den durchaus gleichen Umständen при совершенно одинаковых обстоятельствах
6
an jedem Ersten каждое первое число месяца
7
ein alter Marsouin старый морской волк
8
den Mietpreis um ein Drittel zu kürzen уменьшить на треть арендную плату
9
Pfui Teufel, wieder so ein Biest! Тьфу, черт, вот же бестия!
10
aufs Spiel setzen поставить на карту
11
arme Teufel бедолаги
12
scheint der Bracquemont geeignet Бракемон кажется подходящим
13
Offenbarung St. Johannis Откровение св. Иоанна Богослова
14
das Neue Testament Новый Завет
15
auf alle Fälle в любом случае
16
Henkermahlzeit трапеза палача
17
aus anderen Gründen по иным причинам
18
mein Gegenüber мою визави (сидящую напротив)
19
Wellenlocken волнистые локоны
20
dass es gar nichts fruchten wird что это не принесет никаких плодов
21
schauten zu mir herüber смотрели на меня через улицу