Цвейг Стефан - Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке стр 12.

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So stark war dieses Traumgefühl, so tief die Verworrenheit, dass der alte Mann, als er aufdämmerte, unwillkürlich hingriff an die linke Brust, ob er sein Herz nicht mehr in sich hätte. Aber, gottlob! da schlug noch etwas, dumpf und rhythmisch unter dem tastenden Finger, und doch war’s, als wäre dies nur tauber Schlag ins Leere und sein Herz weg. Denn sonderbar: es schien mit einemmal ihm der eigene Leib wie von sich weggetan. Kein Schmerz zerrte mehr, kein Erinnern zuckte mit gefoltertem Nerv, alles war stumm da innen, starr und versteint. „Wie ist das?“ dachte er, „eben hat mich so vieles gequält, eben war das Innen da noch heiß überdrängt, eben zuckte noch jede Fiber. Was ist mir geschehen?“ Wie in ein Hohles horchte er hinein, ob das Frühere sich nicht rührte. Aber ganz weit war dies Rieseln und Rauschen, dies Tropfen und Klopfen – er horchte und horchte —, nichts, nichts, nichts hallte zurück. Nichts quälte mehr, nichts quoll mehr auf, nichts schmerzte mehr: leer und schwarz wie die Höhlung eines ausgebrannten Baumes musste das da innen sein. Und mit einemmal war ihm, als ob er schon gestorben wäre oder etwas in ihm gestorben, so grauenhaft stumm stockte das Blut. Kalt wie ein Leichnam lag unter ihm sein eigener Leib, er hatte Angst, ihn anzufühlen mit der warmen Hand.

Der alte Mann horchte in sich hinein: er hörte nicht, dass immer wieder die Glocken vom See ihre Stunden herein in sein Zimmer schlugen, jede in mehr Dämmerung gehüllt. Rings um ihn wuchs schon die Nacht, Dunkel strich die Dinge aus dem wegfließenden Raum; selbst der hellere Himmel im Viereck des Fensters erlosch vollkommen in Finsternis. Der alte Mann merkte es nicht, er starrte nur in das Schwarze in sich, er horchte nur in das Leere in sich hinein wie in den eigenen Tod.

Da endlich brach ins Nachbarzimmer Gelächter und Übermut, Licht flammte nebenan – ein Strahl davon spritzte durch die nur angelehnte Tür. Der alte Mann schreckte auf: seine Frau, seine Tochter! Gleich würden sie ihn hier auf dem Ruhebett finden, ihn fragen. Eilig knöpfte er sich Rock und Weste: was brauchten sie von seinem Anfall zu wissen, was ging es sie an?

Aber die beiden Frauen suchten ihn nicht. Sie hatten Eile offenbar, ungestüm hämmerte der Gong seine dritte Ladung zum Diner. Sie richteten sich anscheinend her: der Lauschende hörte durch die offen Türe jede Bewegung. Jetzt schoben sie die Läden auf, jetzt legten sie leise klirrend die Ringe auf die Waschtische, jetzt polterten Schuhe zu Boden, und zwischendurch redeten sie: jedes Wort, jede Silbe ging grauenhaft verständlich dem Horchenden ins Ohr. Erst sprachen und spotteten sie über die Herren, über kleinen Zufall der Fahrt, durchaus Leichtes und Lockeres im stolpernden Durcheinander während dieses Sich-Waschens und Bückens und Putzens. Da plötzlich schwenkte das Gespräch auf ihn über.

„Wo ist denn Papa?“ hatte Erna gefragt, voll Verwunderung, so spät an ihn zu denken.

„Wie soll ich’s wissen“ – das war die Stimme der Mutter, sofort verärgert bei der bloßen Erwähnung. „Wahrscheinlich wartet er unten in der Halle und liest zum hundertstenmal die Kurse in der Frankfurter Zeitung – sonst interessiert ihn ja nichts. Glaubst du, dass er sich den See überhaupt nur angesehen hat? Es gefällt ihm hier nicht, hat er mir heute mittag gesagt. Heute, wünschte er, sollten wir noch abreisen.“

„Heute noch abreisen?… Ja, warum denn?“ Das war wieder Ernas Stimme.

„Ich weiß nicht. Wer kennt sich in ihm aus. Unsere Gesellschaft konveniert ihm nicht, die Herren stehen ihm offenbar nicht zu Gesicht – wahrscheinlich fühlt er selbst, wie schlecht er zu ihnen passt. Wirklich eine Schande, wie er herumgeht, immer die Kleider zerdrückt, mit offenem Kragen… Du solltest ihn doch aufmerksam machen, wenigstens abends sich ein bisschen soignierter zu halten, auf dich hört er ja. Und heute vormittag… ich habe geglaubt, ich müsste in die Erde sinken, wie er den Tenente wegen des Feuerzeugs anfuhr…“

„Ja, Mama… was war das?… Ich wollte dich schon fragen… Was war das mit Papa?… So habe ich ihn nie gesehen… ich bin wirklich erschrocken.“

„Ach was, schlechte Laune war es… wahrscheinlich sind die Kurse gefallen… oder weil wir Französisch gesprochen haben… Er kann es nicht vertragen, wenn andere vergnügt sind… Du hast’s ja nicht bemerkt: während wir tanzten, stand er an der Tür wie ein Mörder hinter dem Baum… Abreisen! Auf der Stelle abreisen! und nur weils ihm plötzlich so beliebt… Wenns ihm hier nicht gefällt, soll er doch uns unsere Freude lassen… aber ich kümmere mich nicht um seine Launen, er soll sagen und tun, was er will.“

Das Gespräch stockte. Offenbar war während des Redens die Abendtoilette beendet: ja, die Tür wurde geöffnet, jetzt gingen sie aus dem Zimmer, der Kontakt knackte, das Licht erlosch.

Der alte Mann saß ganz still auf der Ottomane[27]. Er hatte jedes Wort gehört. Aber sonderbar: es tat nicht mehr weh, gar nicht mehr weh. Das, was früher gehämmert und gerissen, dies wilde Uhrwerk, stand ganz still in der Brust, es musste zerbrochen sein. Nichts zuckte auf an dieser scharfen Berührung. Kein Zorn, kein Hass… nichts… nichts… Ruhig knöpfte er die Kleider zu, tappte vorsichtig die Treppe hinab und setzte sich hin an ihren Tisch wie zu fremden Menschen.

Er sprach nicht zu ihnen an jenem Abend, sie beide wiederum merkten das wie Fäuste geballte Schweigen nicht. Ohne Gruß ging er dann wieder in sein Zimmer, legte sich zu Bett und löschte das Licht. Viel später erst kam seine Frau von heiterer Unterhaltung; da sie ihn schlafend meinte, kleidete sie sich im Dunkel aus. Bald hörte er ihre schweren, unbesorgten Atemzüge.

Der alte Mann, allein mit sich selbst, starrte offenen Auges in das grenzenlos Leere der Nacht. Neben ihm lag etwas im Dunkel und atmete tief: er bemühte sich zu erinnern, dass dieser Körper, der da gleiche Luft des gleichen Zimmers trank, derselbe war, den er jung und glühend gekannt, der ihm ein Kind gegeben, ein Körper, ihm verbunden durch das tiefste Geheimnis des Bluts; immer wieder zwang er sich, zu denken, dass dies Warme und Weiche nebenan, das er mit der Hand anrühren konnte, einmal Leben gewesen in seinem Leben. Aber sonderbar: dies Erinnern erregte kein Gefühl mehr. Und er hörte diese Atemzüge nicht anders, als von dem offenen Fenster die murmelden kleinen Flutwellen, die glucksend an den Kieseln des Ufers schmatzten. All das war ferne und wesenlos, nur mehr ein Nebenan, ein Zufalliges und Fremdes: vorbei, für immer vorbei.

Einmal zitterte er noch auf: ganz leise und schleicherisch ging nebenan die Tür vom Zimmer der Tochter. „Also heute wieder“ – einen kleinen heißen Stich noch fühlte er in dem schon totgemeinten Herzen. Eine Sekunde zuckte da etwas wie ein Nerv, ehe er ganz abstirbt. Dann war auch dies vorbei: „Mag sie tun, was sie will! Was geht sie mich noch an!“

Und der alte Mann legte sich wieder zurück in das Kissen. Weicher drängte das Dunkel an die schmerzenden Schläfen, schon sickerte blaue Kühle wohltätig ins Blut. Und bald überschattete ein dünner Schlummer die entkräfteten Sinne.

Als die Frau morgens erwachte, sah sie ihren Mann schon in Mantel und Hut. „Was tust du da?“ fragte sie noch schlaftrunken.

Der alte Mann wandte sich nicht um, gleichmütig stopfte er noch Nachtzeug in den Handkoffer. „Du weißt ja, ich fahre zurück. Ich nehme nur das Nötigste mit, das andere könnte ihr mir nachschicken.“

Die Frau schrak auf. Was war das? So hatte sie seine Stimme nie gehört: ganz kalt, ganz starr stieß jedes Wort sich aus den Zähnen. Mit beiden Beinen fuhr sie aus dem Bett. „Du willst doch nicht abreisen?… warte… wir fahren doch auch, ich habe es schon Erna gesagt… „

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