Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stuermisch heraus, als das uebrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als das uebrige. Daher geschieht es denn aber auch, dass sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und dass wir sie in jenen ebenso unnatuerlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie ueberlegten nie, dass die Stickerei von dem Grunde abstechen muss, und Gold auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist.
Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabei machen sollen, noch was fuer welche. Sie machen gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende.
Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen ueberlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie umgibt, zu werfen; so ist es natuerlich, dass sie allen Bewegungen des Koerpers, die von ihrem blossen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruecken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuss fest auf, die Arme sinken, der ganze Koerper zieht sich in den wagrechten Stand; eine Pause—und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feierlichen Stille, als ob er sich nicht stoeren wollte, sich selbst zu hoeren. Die Reflexion ist aus,—wieder eine Pause—und so wie die Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu maessigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmaehlich das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, waehrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urploetzlich in unserer Gewalt, als Fuss und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdrueckenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande des ganzen uebrigen Koerpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kaelte, mit welcher ich glaube, dass die Moral in heftigen Situationen gesprochen sein will.
Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein; nur mit dem Unterschiede, dass der Teil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kaeltere, und welcher dort der kaeltere war, hier der feurige sein muss. Naemlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen hoehern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glieder des Koerpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beitragen lassen; die Haende werden in voller Bewegung sein; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der uebrige Koerper gern herausarbeiten moechte.
Viertes Stueck Den 12. Mai 1767
Aber von was fuer Art sind die Bewegungen der Haende, mit welchen, in ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet?
Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Haende vorgeschrieben hatten, wissen wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, dass sie die Haendesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner darin zu leisten imstande sind, kaum die Moeglichkeit sollte begreifen lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermoegen, Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte Bedeutung zu geben, und wie sie untereinander zu verbinden, dass sie nicht bloss eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes faehig werden.
Ich bescheide mich gern, dass man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schauspieler vermengen muss. Die Haende des Schauspielers waren bei weitem so geschwaetzig nicht, als die Haende des Pantomimens. Bei diesem vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den Nachdruck derselben vermehren und durch ihre Bewegungen, als natuerliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Haende nicht bloss natuerliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle Bedeutung, und dieser musste sich der Schauspieler gaenzlich enthalten.
Er gebrauchte sich also seiner Haende sparsamer, als der Pantomime, aber ebensowenig vergebens, als dieser. Er ruehrte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstaerken konnte. Er wusste nichts von den gleichgueltigen Bewegungen, durch deren bestaendigen einfoermigen Gebrauch ein so grosser Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand die Haelfte einer krieplichten Achte, abwaerts vom Koerper, beschreiben, oder mit beiden Haenden zugleich die Luft von sich wegrudern, heisst ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen Tanzmeistergrazie zu tun geuebt ist, oh! der glaubt, uns bezaubern zu koennen.
Ich weiss wohl, dass selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand in schoenen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen moeglichen Abaenderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwunges, ihrer Groesse und Dauer, faehig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reizes gelaeufig zu machen; nicht aber in der Meinung, dass das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schoenen Linien, immer nach der naemlichen Direktion, bestehe.
Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Grimasse; und ebenderselbe Reiz, zu oft hintereinander wiederholt, wird kalt und endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Spruechelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet.
Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muss bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauch, in Beispielen zu erlaeutern. Itzt wuerde mich dieses zu weit fuehren, und ich merke nur an, dass es unter den bedeutenden Gesten eine Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umstaenden der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermassen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwaertige von dem weniger aufmerksamen oder weniger scharfsinnigen Zuhoerer nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurueckzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus sein koennen, so muss sie der Schauspieler ja nicht zu machen versaeumen.