Sobald der Sohn ihn kommen sah, ließ er die Leiter fahren, daß sie polternd herunterfiel. Der Junge selber lief wie eine Katze das Dach hinauf, bis zum First, guckte sich um und balancierte da, als hätt' er sein Lebtag nichts anderes getrieben. Jetzt fühlte er augenscheinlich keine Schmerzen mehr in den Füßen!
Des Vaters Angst überstieg alle Grenzen. "So pass' doch auf, Du! Pass' auf, sag' ich! Pass' auf! Willst Du wohl machen, daß Du 'runterkommst! Und zwar auf der Stelle! Mach', daß Du 'runterkommst, Du Lümmel!" Und er rannte in seinen Reitstiefeln im Hof herum und drohte hinauf.
"Fällt mir gar nicht ein! Ich spring' auf den Hof hinunter! Jawohl!"
"Bengel! Bist Du toll? Hölle und Teufel! Willst Du's wohl bleiben lassen!"
"Ja, wenn Du mich nicht haust!" – "Ich verspreche gar nichts!" – "So? Du versprichst gar nichts?" Und der Junge kletterte noch ein bißchen höher hinauf.
– "Doch! doch! Du Spitzbub! Du Lump!" – "Also Du versprichst es?" – "Ich versprech's ja – zum Teufel! Willst Du machen, daß Du 'runterkommst?" – "Auch nicht an den Haaren reißen – und nicht hauen – und nichts?" – "Ja doch, ja! Mach', daß Du 'runterkommst! Herrgott – Du rutschst ja aus! Edvard!" – Er kreischte. – "Also es gilt —? Du hast's versprochen?" – "Junge, wenn ich Dich hier hätte – Du solltest – —" er drohte mit der Peitsche hinauf. "Ja doch – ich hab's versprochen! Ich versprech' alles! Pass' auf!" – "Darf ich bis morgen hier bleiben?" sagte jetzt der Junge, "bei Ole? Darf ich?" – "Ich antworte überhaupt nicht mehr, bis Du herunterkommst!" – "Also nicht? Na denn – —" – "Du Starrkopf! Du miserabler Bengel!" – "Also Du sagst ja?" – "Ja doch, zum Teufel! Aber pack' Dich wenigstens fort vom Dachrand, Du Satanslümmel!" – "Du, Vater, eigentlich wär' mir's lieber, wenn Du zuerst weggingst!" – "O nein! Das schlag Dir nur aus dem Kopf! Mach' was Du willst. Erst will ich Dich wieder hier unten sehen!" – Schließlich war das dem Jungen auch recht. Der Vater legte die Leiter an, und der Junge kletterte langsam herunter; immerhin nicht eher, als bis der Vater ein Stück weit auf den Hof hinaus gegangen war. Und er hielt sich in gemessenem Abstand, trotzdem der Vater gern mit ihm geredet hätte und beteuerte, er werde ihm nichts tun. Er ging auch nicht ins Haus, solang der Vater da war, trotzdem er so naß war, und zwang den Vater dadurch, zu gehen.
Fünf, sechs Minuten darauf lagen beide Jungen strampelnd auf der Diele – Edvard in einem gleichgroßen Hemd wie Ole und im übrigen ebenso unbekleidet; beide waren dabei, ein paar dicke wollene Strümpfe anzuziehen, von der Art, wie die Bauern sie tragen, und die weit hinauf bis an den Schenkel reichen. Sie fanden es am bequemsten, das Geschäft auf dem sandbestreuten Fußboden vorzunehmen. Sie pufften einander in die Seiten und den Rücken und lachten, als sei all das, was wir soeben miterlebt haben, schon vor wer weiß wie langer Zeit geschehen. Ole machte alles nach, was Edvard vormachte; und sie lachten so, daß zuletzt auch die Mutter mitlachen mußte; dieser Edvard hatte auch die unglaublichsten Einfälle! Die Strümpfe mußten sie anziehen, damit sie nicht froren, wenn sie beim Essen am Tisch saßen; denn da gab's keinen Herd für die Beine. Und endlich waren sie denn auch so weit fertig, daß sie aufstehen konnten. Nun zeigte es sich, was das andere Gericht war; es war Rahmbrei. Das hatte Edvard noch nie gegessen. Ole sollte ein bißchen vergnügter werden, als er bei seiner Ankunft war; darum hatte die Mutter den Brei noch zugegeben. Edvard klatschte in die Hände und lachte das Essen an.
Aber Ole saß mit einemmal so ernst und still da! Nanu, was jetzt? Die Hände gefaltet, die Augen niedergeschlagen? Und die Mutter stand vor ihnen – auch sie ernst, die Hände gefaltet, die Augen niedergeschlagen. Ihr Gesicht neigte sich; es war, als glitte es weiter und weiter weg, oder als schöben sich Nebel davor und löschten alles Licht darin aus. Und dann begann sie, wie aus weiter, weiter Ferne, mit einem langen, langen Tischgebet, in einem einförmigen, leisen Ton, als rede sie still mit jemand anderm, an einem andern Ort als hier. Edvard fühlte sich wie ausgestoßen. Die Verlassenheit, die Angst kamen wieder über ihn, die alten Bilder, die alte Sehnsucht nach der Mutter. Dann war es weg, zusammengerollt wie Nebel, die am Gebirg herunter sinken.
Edvard hatte noch nie an einem Tischgebet teilgenommen, und die Art und das Wesen der Mutter waren für ihn etwas ganz, ganz Neues; und er verstand sie nicht, wenn sie so murmelte. Noch lange nachher saß er still da. Ole sprach ebenfalls nicht; die ganze Zeit, solange sie aßen, war er einsilbig; kaum daß er einmal lächelte. Das Essen war eine Gottesgabe; deshalb mußte Ernst herrschen.
Aber sie aßen denn auch mit Ernst! Die Mutter fragte schließlich, ob es nicht besser sei, ein bißchen für den Abend aufzuheben. Nein, meinten sie, dies sei ja doch gleichzeitig auch Abendbrot. Sie durften zusammen in der Altenteilstube schlafen, die als Gastzimmer diente; es war dort schon alles zurecht gemacht; und jetzt wollten sie noch ein Stündchen am Herd sitzen, dann aber zu Bett gehen.
Die Mutter merkte, daß sie am liebsten allein sein mochten und ließ sie denn auch allein.
Und dann später in der Schlafstube! Erst der entsetzlichste Spektakel! Die Pelzdecken und Federbetten stoben nur so um sie herum; dann wurde es allmählich ruhiger, und endlich kam es zu einem Gespräch. Ole erzählte, wie die Jungens sich benommen hatten, und Edvard versprach, er wolle den und jenen dafür durchhauen, und wenn es Anders Hegge selber wäre; wenn der nicht den Mund halte von "Gottes Wegen" und all dem, so würde er, Edvard, ihn ordentlich durchwichsen. Anders Hegge sei feig. Er wisse schon, wer ihm dabei helfen würde; das reine Kinderspiel!
Als sie müder wurden, kam die Sentimentalität; Ole sprach von Josefine, und Edvard ging auf seinen Ton ein und versicherte, sie sei unvergleichlich gewesen heute; er beschrieb, wie sie ihm nachgerudert war. Und Ole fand das groß. Ja, Josefine hatte etwas Großes; darin stimmten sie beide überein.
Edvard konnte nicht begreifen, weswegen Ole Missionär werden wollte. Was zum Kuckuck hatte es denn für einen Sinn, auf wilde Abenteuer auszuziehen, wo es doch hier in der Heimat genug zu tun gab? Ole sollte Pastor werden, und er Arzt, und beide würden sie im selben Kirchspiel leben. Wäre das nicht famos?
Edvard malte das immer weiter aus; sie würden Hof an Hof wohnen und oft zusammenkommen, besonders abends zu einem Glase Punsch, wie jetzt der Vater und der Apotheker, und Schach spielen wie sie. Dann wollten sie sich einen flotten Wagen kaufen, und jeder ein Pferd dazu halten, und zusammen ausfahren; das war gemütlicher als allein. Oder sie konnten am Strand wohnen und gemeinsam ein großes Boot haben – alles gemeinsam.
Ole war es, als sei bei allem Josefine mit, wenn auch Edvard davon nichts sagte. Aber es war klar, daß sie mit dabei war. Und Ole fand das so zart von Edvard, und war ihm so ungeheuer dankbar; und das gab den Ausschlag. Josefine als Pfarrfrau, die auf dem Hof waltete und schaltete …
Also schließlich war er einverstanden; es wurde bestimmt, der eine sollte Pastor werden und der andere Doktor, und sie wollten zusammenwohnen. Das letzte, wovon sie sprachen, waren Fischzüge.
Sie hörten noch gewissermaßen die schweren Schritte und die Reden der Männer, die vom Fischzug heimkehrten, aber sie waren so müde.
Jugend
1
Erstes Paar vor!
Auf dem Land draußen, etwa fünf Kilometer von der Stadt entfernt, hatte sich das junge Volk versammelt. Der Hügel, auf dessen nach der Bucht zu abfallendem Teil sie saßen, war lustig bunt von Sommerkleidern, besonders von Mädchenkleidern:
– manche einfarbig, viele gesprenkelt, gewürfelt, gestreift; Filzhüte, Strohhüte, Tüllhüte, Mützen, unbedeckte Köpfe, Sonnenschirme. Eben stieg ein harmonischer Gesang aus diesem Farbenmischmasch empor, Klänge eines vereinten Männer- und Frauenchors, in langen, farbenvollen Bogen. Kein eigentlicher Vorsänger; ein junges, brünettes Mädchen in braunkariertem Kleide lag in der Mitte der Schar, auf den einen Ellbogen gestützt, und führte mit einem Sopran an, der klarer und freier als die Stimmen der andern war; und ihr folgten sie. Sie waren gut aufeinander eingesungen. In der Bucht unter ihnen lag ein frischgestrichenes Deckboot mit neuen, zur Hälfte gerefften Segeln; und das Wasser spiegelglatt.