„Das tust du nicht.“, antwortete er. „Es ist beiden bestimmt zu sterben. Es tut mir leid. Doch das ist ihr Schicksal.”
Gwen fühlte sich, als hätte jemand ihr einen Dolch in die Eingeweide gerammt. Beide sollten sterben? Es war zu schrecklich, um es sich vorstellen zu können. Konnte das Schicksal wirklich so grausam sein?
“Ich kann nicht den Einen über den Anderen wählen.“, sagte sie schließlich mit schwacher Stimme. „Meine Liebe für Thor ist natürlich stärker. Aber Godfrey ist mein eigen Fleisch und Blut. Ich kann nicht ertragen, dass einer auf Kosten des Anderen leben soll. Und ich glaube nicht dass einer von ihnen das will.“
„Dann werden beide sterben.“, entgegnete Agron.
Gwen fühlte sich von Panik überwältigt.
„Warte!“, rief sie, als er sich von ihr abwenden wollte.
Er drehte sich wieder zu ihr um und sah sie fragend an.
„Was ist mit mir?“, fragte sie. „Was, wenn ich an ihrer Stelle sterbe? Ist das möglich? Könnten dann beide leben?“
Argon blickte sie eine Weile lang an, als ob er ihr tief ins Herz schauen wollte.
„Dein Herz ist rein.“ Sagte er. “Du hast von allen MacGils das reinste Herz. Dein Vater hat eine weise Wahl getroffen. Ja das hat er...“
Argon verstummte und er schaute ihr weiter tief in die Augen. Gwen fühlte sich unwohl, wagte aber nicht, den Blick abzuwenden.
„Aufgrund deiner Wahl, deiner Opferbereitschaft in dieser Nacht“, sagte Argon „hat das Schicksal dich erhört. Thor wird Leben. Und auch dein Bruder. Und auch du sollst leben. Doch einen kleinen Teil deines Lebens musst du geben. Denke daran, es gibt immer einen Preis. Ein Teil von dir wird sterben, damit beide leben können.“
“Was soll das heißen?”, fragte sie, starr vor Angst.
„Alles hat seinen Preis.“, antwortete er. „Du hast die Wahl. Willst du ihn lieber nicht bezahlen?“
Gwen wappnete sich für das, was nun kommen sollte.
“Ich würde alles für Thor tun.”, sagte sie. „Und für meine Familie.“
Argon sah durch sie hindurch.
„Thor erwartet ein großes Schicksal.“, sagte Argon. „Aber das Schicksal kann sich ändern. Unser Schicksal liegt in unseren Sternen. Aber es wird auch von Gott gelenkt. Gott kann das Schicksal ändern. Thor sollte heute Nacht sterben. Dank dir wird er leben. Doch du musst den Preis dafür zahlen. Und der ist hoch.”
Gwen wollte mehr wissen und streckte ihre Hand nach Argon aus. Doch noch bevor sie seine Hand berühren konnte, blitzte ein grelles Licht auf und Argon war verschwunden.
Gwen fuhr herum und blickte in alle Richtungen, doch er war verschwunden.
Sie wandte sich schließlich wieder dem See zu, der immer noch so ruhig dalag, als wäre dies eine Nacht wie jede andere. Sie sah ihr Spiegelbild und es erschien ihr unendlich weit entfernt. Sie war erfüllt mit Dankbarkeit, und endlich auch einem Gefühl des Friedens. Doch sie hatte auch Angst um ihre eigene Zukunft. So sehr sie auch versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, so brennend wollte sie es wissen: Welchen Preis würde sie für Thors Leben bezahlen müssen?
KAPITEL ACHT
Thor lag inmitten des Schlachtfeldes und wurde von McCloud’s Kriegern zu Boden gedrückt, hilflos. Er konnte das Klirren der Schwerter hören, das Wiehern der Pferde, die Schreie sterbender Männer um ihn herum. Die untergehende Sonne und der aufgehende Mond – ein Vollmond, voller als jeder Vollmond, den er in seinem Leben jemals gesehen hatte – wurden plötzlich von einem riesigen Soldaten verdeckt, der mit erhobenem Dreizack auf ihn zutrat. Thor wusste, dass seine Zeit gekommen war.
Er schloss die Augen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Er fühlte keine Angst. Nur Reue. Er wollte mehr Zeit zu leben; er wollte herausfinden, wer er war, welches Schicksal ihm bestimmt war, und vor allem wollte er mehr Zeit mit Gwen.
Thor hatte das Gefühl, dass es einfach nicht fair war, auf diese Weise zu sterben. Nicht auf diese Weise. Nicht an diesem Tag. Es war noch nicht seine Zeit, und er konnte es fühlen. Er war noch nicht bereit zu gehen.
Auf einmal spürte Thor etwas in sich aufsteigen: eine Wildheit, eine Stärke, anders als alles, was er bisher gekannt hatte. Sein ganzer Körper prickelte und wurde heiß, als ihn ein neues Gefühl durchströmte. Von den Sohlen seiner Füße hinauf durch seine Beine, seinen Rumpf und seine Arme hindurch bis in die Fingerspitzen. Er brannte von einer Energie, die er sich nicht erklären konnte. Thor erschrak vor seinem eigen wilden Gebrüll, das klang, als wollte ein Drache aus den Tiefen der Erde emporsteigen.
Er spürte die Kraft von zehn Männern durch seinen Körper pulsieren, als er sich aus dem Griff der feindlichen Krieger befreite und auf die Füße sprang.
Noch bevor der Krieger mit dem Dreizack seine Waffe auf ihn herabsausen lassen konnte sprang Thor nach vorn, griff ihn beim Helm, und versetzte ihm einen Stoß, der ihm die Nase brach. Dann trat er ihn so hart, dass er wie von einer Kanonenkugel getroffen nach hinten umfiel und dabei zehn andere Männer mit umriss.
Thor schrie mit einer neu entdeckten Wut, als er einen anderen Krieger packte. Er hob ihn hoch und warf ihn in die Menge, wobei ein weiteres Dutzend Krieger zu Boden ging. Thor riss dann einem anderen Krieger einen Morgenstern mit einer drei Meter langen Kette aus den Händen schwang ihn über seinem Kopf, wieder und wieder, bis sich Schreie um ihn herum erhoben, und mähte alle Krieger in Reichweite der Kette um. Dutzende von ihnen.
Thor spürte, wie seine Kraft weiter anwuchs und ließ sich von ihr leiten. Während einige Männer auf ihn zustürmten, streckte er seinen Arm nach hoch über seinen Kopf, und fühlte wie seine Handfläche anfing zu prickeln und ein kühler Nebel aus ihr hervortrat. Seine Angreifer blieben plötzlich stehen, bedeckt von einer dicken Eisschicht. Sie standen erstarrt, zu Eis gefroren.
Thor streckte seine Hände in jede Richtung, und rings um ihn herum gefroren die Krieger zu Eis. Es sah aus als hätte es riesige Eisblöcke geregnet.
Thor wandte sich seinen Waffenbrüdern zu und sah, wie mehrere Krieger zu tödlichen Schlägen auf Reece, O’Connor, Elden und die Zwillinge ausholten. Er hob seine Hand und deutete auf die Angreifer. Auch sie froren sofort zu Eis. Seine Freunde drehten sich zu ihm um und sahen ihn an. Erleichterung und Dankbarkeit in ihren Blicken.
Die Krieger in McClouds Armee bemerkten, was vor sich ging, und versuchten nicht weiter, Thor Nahe zu kommen. Sie begannen, einen sicheren Abstand zwischen Thor und sich zu bringen. Zu verängstigt, sich auch nur zu nähern, nachdem sie gesehen hatten, wie dutzende ihrer Kameraden auf dem Schlachtfeld zu Eis gefroren waren.
Doch dann erhob sich ein wildes Getöse und ein Riese trat vor, fünfmal so groß wie alle anderen. Er musste vier Meter groß gewesen sein, und trug ein Schwert, das grösser war als jedes das Thor bisher gesehen hatte. Thor erhob seine Hand um auch ihn einzufrieren – doch es schien bei ihm nicht zu wirken. Er schien dem Strom, der von Thors Hand ausging wie lästige Insekten wegzuschlagen, und stürmte weiter auf ihn zu. Thor begann zu erkennen, dass seine neue Kraft unvollkommen war. Er war überrascht und konnte nicht verstehen, warum er diesen Mann nicht aufhalten konnte.
Der Riese erreichte Thor in drei langen Schritten und schlug ihn mit seinem Handrücken nieder. Thor war überrascht von seiner Geschwindigkeit. Thor schlug hart auf dem Boden auf, und bevor er sich aufrappeln konnte war der Riese schon wieder über ihm und hob ihn hoch über seinen Kopf. Er warf ihn weit von sich und die Krieger um ihn herum schrien triumphierend als Thor durch die Luft flog. Er flog fast zehn Meter, schlug hart auf und rollte noch ein Stück weiter, bis er endlich liegen blieb. Thor fühlte sich, als ob alle seine Rippen gebrochen waren. Er blickte auf und sah wie sich der Riese auf ihn stürzte. Dieses Mal gab es nichts mehr, was er tun konnte. Was auch immer diese Kraft war, die in ihm aufgestiegen war, war erschöpft.