Als Caitlin den Boden genauer betrachtete, entdeckte sie in der Nähe des Fensters zwei Einbuchtungen. Sie waren einige Zentimeter voneinander entfernt und hatten die Form von Knieabdrücken. Neugierig fragte sie sich, wie viele Nonnen hier wohl schon vor dem Fenster gekniet und gebetet hatten. Wahrscheinlich wurde diese Kammer schon seit Jahrhunderten benutzt.
Caitlin ging zu dem schmalen Bett und legte sich darauf. Eigentlich handelte es sich nur eine Steinplatte mit einer dünnen Strohschicht darauf. Als sie versuchte, es sich ein wenig bequemer zu machen, indem sie sich auf die Seite rollte, fühlte sie plötzlich etwas. Etwas steckte unter ihrem Kleid – sie griff darunter und zog es hervor. Entzückt stellte sie fest, dass es ihr Tagebuch war.
Sie war sehr glücklich, ihren guten alten Freund an ihrer Seite zu haben, offensichtlich war das Buch das Einzige, das die Zeitreise überlebt hatte. Als sie diesen realen, greifbaren Gegenstand an sich drückte, begriff sie endgültig, dass sie nicht bloß träumte. Sie war tatsächlich hier, alles war wirklich geschehen.
Ein moderner Stift rutschte zwischen den Seiten heraus und fiel in ihren Schoß. Nachdenklich hob sie ihn hoch und musterte ihn.
Ja, das war es. Genau das musste sie jetzt tun: schreiben, verarbeiten. Die Ereignisse waren so schnell aufeinandergefolgt, dass sie kaum Zeit zum Luftholen gehabt hatte. Deshalb hatte sie das Bedürfnis, alles noch einmal in Gedanken durchzuspielen und sich jede Einzelheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie war sie an diesen Ort gelangt? Was war genau geschehen? Wie ging es jetzt weiter?
Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie die Antworten überhaupt noch kannte – doch sie hoffte, dass sie sich durch das Niederschreiben an alles erinnern würde.
Vorsichtig blätterte Caitlin die etwas brüchigen Blätter um, bis sie eine leere Seite fand. Dann setzte sie sich auf, lehnte sich an die Wand, zog die Knie hoch und begann zu schreiben.
* * *
Wie bin ich hier gelandet? In Assisi? In Italien? Im Jahr 1790? Einerseits scheint es nicht lange her zu sein, dass ich noch im einundzwanzigsten Jahrhundert war und in New York das normale Leben eines Teenagers führte. Andererseits kommt es mir wie eine Ewigkeit vor … Wie hat noch mal alles angefangen?
Das Erste, das mir einfällt, sind die extremen Hungerattacken – zuerst hatte ich gar nicht kapiert, woher die Schmerzen kamen. Ich erinnere mich an Jonah, die Carnegie Hall, meine erste Blutmahlzeit. Meine unerklärliche Verwandlung in einen Vampir. Ein Halbblut haben sie mich genannt. Zu dem Zeitpunkt wäre ich am liebsten gestorben. Schließlich hatte ich nie etwas anderes gewollt, als so zu sein wie alle anderen.
Dann war da Caleb. Er hat mich vor dem bösen Clan gerettet. Sein eigener Clan wohnt in The Cloisters. Doch sie haben mich rausgeworfen, weil Beziehungen zwischen Menschen und Vampiren verboten sind. Ich war wieder allein – zumindest, bis Caleb mich wieder gerettet hat.
Meine Suche nach meinem Vater und dem mythenhaften Schwert, mit dessen Hilfe die Menschheit und die Vampire vor einem schrecklichen Krieg bewahrt werden können, führte Caleb und mich von einem historischen Ort zum nächsten. Wir fanden das Schwert, aber es wurde uns wieder weggenommen. Wie immer wartete schon Kyle, um für Unheil zu sorgen.
Dann wurde mir allmählich klar, was aus mir geworden war. Außerdem entdeckten Caleb und ich unsere Liebe füreinander. Nachdem das Schwert gestohlen worden war und nachdem man mich niedergestochen hatte, lag ich im Sterben, aber Caleb verwandelte mich und rettete mir damit wieder einmal das Leben.
Doch dann entwickelten sich die Dinge nicht so, wie ich geglaubt hatte. Ich sah Caleb mit seiner Exfrau Sera und befürchtete gleich das Schlimmste. Obwohl ich damit falsch lag, war es bereits zu spät. Er flüchtete und begab sich in Gefahr. Inzwischen kam ich auf Pollepel Island wieder zu Kräften, trainierte fleißig und gewann Freunde – Vampirfreunde. So gute Freunde hatte ich vorher nie gehabt. Vor allem mit Polly verstand ich mich gut. Und mit Blake – er steckte voller Rätsel und sah blendend aus. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mir mein Herz gestohlen. Doch ich kam gerade noch rechtzeitig wieder zur Vernunft. Dann erfuhr ich, dass ich schwanger war, und beschloss Caleb zu suchen und vor dem Vampirkrieg zu retten.
Leider kam ich zu spät. Mein eigener Bruder Sam täuschte uns, betrog mich und ließ mich glauben, er wäre ein anderer. Er war schuld daran, dass ich glaubte, Caleb wäre nicht Caleb – und ich tötete unwissentlich meine große Liebe. Mit dem Schwert. Mit meinen eigenen Händen. Das kann ich mir niemals verzeihen.
Danach brachte ich Caleb nach Pollepel und versuchte, ihn wiederzubeleben, koste es, was es wolle. Ich hatte Aiden gesagt, ich würde alles dafür tun und wäre bereit, alles zu opfern. Schließlich bat ich Aiden, uns auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zu schicken.
Er hatte mich gewarnt, dass mein Plan möglicherweise schiefgehen könnte. Das würde bedeuten, dass wir vielleicht nicht zusammen sein würden. Trotzdem bestand ich auf meinem Vorhaben, ich musste es einfach tun.
Und jetzt bin ich hier. Allein, an einem fremden Ort in einem vergangenen Jahrhundert. Mein Kind ist weg, und vielleicht habe ich auch Caleb endgültig verloren.
War es ein Fehler, diese Zeitreise zu unternehmen?
Obwohl ich weiß, dass ich meinen Vater und mit ihm den Schutzschild finden muss, bin ich nicht sicher, ob ich die Kraft dazu haben werde – wenn Caleb nicht an meiner Seite ist.
Ich bin völlig durcheinander und weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll.
Bitte, lieber Gott, hilf mir …
Als die Sonne wie ein riesiger Ball am Horizont aufging, rannte Caitlin durch die Straßen New Yorks. Es herrschte Weltuntergangsstimmung. Autos standen kreuz und quer auf den Straßen, Leichen lagen herum, und überall bot sich ein Bild der Verwüstung. Sie rannte und rannte, immer weiter – die Straßen hatten offensichtlich kein Ende.
Während sie lief, schien die Welt sich um ihre Achse zu drehen. Dabei verschwanden allmählich die Gebäude, die Landschaft veränderte sich, die Straßen wurden zu unbefestigten Wegen, und aus dem Asphalt wurde eine Hügellandschaft. Sie hatte das Gefühl, in die Vergangenheit zu laufen, von einer modernen Zeit in ein früheres Jahrhundert. Wenn sie noch schneller laufen würde, könnte sie ihren Vater finden, ihren echten Vater – irgendwo dort hinten am Horizont.
Als sie die kleinen Ortschaften auf dem Land hinter sich ließ, schienen diese sich hinter ihr aufzulösen.
Bald war nur noch ein Feld mit weißen Blumen übrig. Voll Entzücken entdeckte sie am Horizont ihren Vater – ganz offensichtlich erwartete er sie schon.
Wie immer zeichnete sich seine Silhouette gegen die Sonne ab, doch diesmal war er näher als sonst. Sie konnte sogar seinen Gesichtsausdruck erkennen. Er wartete mit einem Lächeln auf sie und streckte bereits die Arme nach ihr aus.
Schließlich erreichte sie ihn, und er schloss sie in seine Arme. Er drückte sie ganz fest gegen seinen muskulösen Körper.
»Caitlin«, sagte er liebevoll. »Weißt du eigentlich, wie nahe du mir bist? Weißt du, wie sehr ich dich liebe?«
Doch noch bevor sie antworten konnte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt. Auf der anderen des Blumenfeldes stand Caleb und streckte eine Hand nach ihr aus.
Sofort ging sie einige Schritte in seine Richtung, dann blieb sie stehen und sah ihren Vater an.
Er streckte ihre ebenfalls die Hand entgegen.