»Komm zu mir nach Florenz«, forderte ihr Vater sie auf.
Sie drehte sich zu Caleb um.
»Komm zu mir nach Venedig«, bat er.
Unentschlossen blickte sie zwischen den beiden hin und her. Sie war hin- und hergerissen, welchen Weg sie einschlagen sollte.
* * *
Mit einem Ruck schreckte Caitlin aus dem Schlaf hoch und saß auf einmal senkrecht im Bett.
Verwirrt sah sie sich in der kleinen Kammer um, bis ihr schließlich klar wurde, dass sie geträumt hatte.
Die Sonne ging gerade auf, und sie ging zum Fenster und sah hinaus. Das Städtchen Assisi wirkte im frühen Morgenlicht so friedlich und war wunderschön. Es war noch niemand draußen, doch vereinzelt stieg schon Rauch aus dem einem oder anderen Schornstein auf. Leichter Dunst lag wie eine dünne Wolke über den Feldern und brach das Sonnenlicht.
Plötzlich fuhr Caitlin herum, als mit einem leisen Knarren die Tür aufging. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste, während sie sich auf einen unwillkommenen Besucher einstellte.
Doch als die Tür sich weiter öffnete, wurden ihre Augen ganz groß vor Freude.
Es war Rose, die die Tür mit ihrer Nase aufschob.
»Rose!«, rief Caitlin entzückt aus.
Der kleine Wolf rannte durch die Kammer und sprang in Caitlins Arme. Dann leckte er ihr die Freudentränen aus dem Gesicht.
Schließlich lehnte sie sich zurück und betrachtete Rose. Sie hatte zugenommen und war deutlich gewachsen.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Caitlin.
Erneut leckte der Wolf ihr über das Gesicht und winselte.
Caitlin setzte sich auf die Bettkante, streichelte das Tier und dachte scharf nach: Wenn Rose die Zeitreise geschafft hatte, dann war Caleb vielleicht genauso erfolgreich gewesen. Sie fühlte sich ermutigt.
Ihr Kopf sagte ihr, dass sie nach Florenz gehen sollte, um ihre Suche fortzusetzen. Der Schlüssel zu ihrem Vater und dem Schild lag dort.
Aber ihr Herz tendierte zu Venedig.
Denn wenn auch nur geringste Chance bestand, dass Caleb dort war, musste sie das unbedingt herausfinden. Sie musste einfach.
Also traf sie ihre Entscheidung, hob Rose hoch und sprang mit Anlauf aus dem Fenster.
Sie wusste, dass sie sich vollständig erholt hatte und ihre Flügel sich daher entfalten würden.
So war es dann auch.
Kurz darauf flog Caitlin durch die Morgenluft über die Hügel von Umbrien und schlug den Weg nach Norden ein, nach Venedig.
5. Kapitel
Kyle spazierte die schmalen Straßen des alten Stadtteils von Rom entlang. Es war gerade Geschäftsschluss, und die Ladenbesitzer sperrten ihre Läden zu. Die Zeit des Sonnenuntergangs hatte er immer schon am liebsten gemocht, denn zu dieser Tageszeit wurde er zunehmend stärker. Sein Blut pulsierte schneller, und mit jedem Schritt nahm seine Kraft zu. Er war so glücklich, wieder in den überfüllten Straßen von Rom zu sein, vor allem in diesem Jahrhundert. Die armseligen Menschen waren noch Hunderte von Jahren von jeglicher Überwachungstechnologie entfernt. Daher könnte er, wenn er wollte, diesen Ort völlig entspannt und sorglos auseinandernehmen, ohne sich vor Entdeckung zu fürchten.
Nun bog er in die Via Del Seminario ein, die bald in einen großen, alten Platz mündete, die Piazza Della Rotonda.
Dort blieb Kyle stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Es fühlte sich so gut an, endlich wieder hier zu sein. Direkt vor ihm stand das Gebäude, das er jahrhundertelang als sein Zuhause betrachtet hatte, einer der bedeutendsten Vampirstandorte auf der Welt: das Pantheon.
Zufrieden stellte Kyle fest, dass das Pantheon aussah wie immer, ein massives, altes Bauwerk aus Stein, dessen hinterer Bereich aus einer großen Kuppel bestand, während vorne riesige, imposante Steinsäulen das Bild dominierten. Tagsüber war es selbst im achtzehnten Jahrhundert für Besucher geöffnet. Horden von Menschen waren dort täglich zu sehen.
Doch nachts, nachdem die Tore für die Öffentlichkeit geschlossen worden waren, traten die eigentlichen Eigentümer, die eigentlichen Bewohner des Gebäudes auf den Plan: der Große Vampirrat.
Vampire von kleinen und großen Clans strömten aus allen Winkeln der Erde zusammen, um den Sitzungen beizuwohnen, die die ganze Nacht andauerten. Der Rat traf Entscheidungen in allen möglichen Angelegenheiten, erteilte Genehmigungen oder entzog sie wieder. Nichts passierte in der Welt der Vampire ohne ihre Kenntnis und – jedenfalls in den meisten Fällen – ohne ihre Zustimmung.
Alles passte perfekt. Das Gebäude war ursprünglich ein Tempel zu Verehrung heidnischer Götter gewesen. Es war immer schon ein Ort der Verehrung und der Versammlung der dunklen Vampirmächte gewesen. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte die Oden an heidnische Götter, die Fresken, Gemälde und Statuen überall sehen. Jeder menschliche Besucher, der sich die Zeit nahm, die Mission des Ortes zu lesen, musste einfach verstehen, worin dessen wahrer Zweck bestand.
Und als wäre das noch nicht genug, waren auch noch alle bedeutenden Vampire dort begraben. Das Ganze war ein lebendes Mausoleum, der perfekte Ort für Kyle und seinesgleichen, um ihn als ihr Zuhause zu betrachten.
Als Kyle die Stufen hinaufstieg, hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen. Er marschierte geradewegs auf die riesengroße, eiserne Flügeltür zu und betätigte forsch viermal den Metalltürklopfer – das Signal für Vampire – und wartete dann.
Kurz darauf wurde die schwere Tür einen Spalt breit geöffnet, und Kyle sah ein unbekanntes Gesicht. Die Tür öffnete sich gerade eben weit genug, um Kyle einzulassen, dann wurde sie schnell wieder zugemacht.
Der große, kräftige Wachposten – er war noch größer als Kyle – sah auf ihn hinunter.
»Wirst du erwartet?«, fragte er misstrauisch.
»Nein.«
Kyle ignorierte den Wachposten einfach und ging an ihm vorbei. Doch dann spürte er plötzlich einen eiskalten Griff an seinem Arm und blieb stehen. Kochend vor Wut drehte er sich um.
Der fremde Vampir war genauso wütend.
»Ohne Termin kommt hier niemand rein«, knurrte er. »Du musst wieder gehen und ein anderes Mal wiederkommen.«
»Ich gehe hin, wohin ich will«, erwiderte Kyle schäumend vor Wut. »Und wenn du mich nicht auf der Stelle loslässt, wirst du es bitter bereuen.«
Der Wachposten erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, und gab keinen Deut nach.
»Wie ich sehe, ändern manche Dinge sich nie «, sagte plötzlich jemand. »Es ist in Ordnung, du kannst ihn loslassen.«
Der Griff um Kyles Arm lockerte sich, und als er sich umdrehte, sah er ein vertrautes Gesicht: Es war Lore, einer der Hauptberater des Großen Rates. Lächelnd sah er Kyle an und schüttelte langsam den Kopf.
»Kyle«, sagte er dann, »ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch mal wiedersehen würde.«
Immer noch kochend vor Wut zog Kyle seine Jacke glatt und nickte bedächtig. »Ich muss etwas mit dem Rat besprechen«, erwiderte er. »Und es duldet keinen Aufschub.«
»Tut mir leid, alter Freund«, fuhr Lore fort, »der Terminplan für heute ist komplett. Einige Vampire warten schon seit Monaten. Anscheinend gibt es in jedem Winkel der Welt dringende Probleme. Aber wenn du nächste Woche wiederkommst, kann ich vielleicht dafür sorgen …«
Jetzt trat Kyle einen Schritt vor. »Du verstehst mich nicht«, widersprach er angespannt. »Ich bin nicht aus dieser Zeit gekommen, sondern aus der Zukunft – von heute ausgehend in zweihundert Jahren. Aus einer ganz anderen Welt. Es geht um alles – wir stehen kurz vor dem Sieg, dem Gesamtsieg. Und wenn ich nicht sofort mit dem Großen Rat sprechen kann, wird das schwerwiegende Folgen für uns alle haben.«
Lores Lächeln verblasste, als er begriff, wie ernst es Kyle damit war. Nach einem kurzen angespannten Schweigen räusperte er sich schließlich und forderte ihn auf: »Komm mit.«