Kassajew:
»Und wofür sitzt du, Schatalin?«
Mich fragt niemals jemand von den Chefs. Schatalin hebt den Kopf, und eine Art Grinsen geht über sein Gesicht.
»Ich, Valentin Iwanowitsch, habe ein Trennfutter verkauft.«
»Was?«
»Ein Trennfutter.«
»Was ist das denn, ein Oberteil?«
»Das Fell aus einem Wintermantel.«
»H-hm. Und für wie viel hast du es verkauft?«
»Für hundert Rubel.«
Man sieht, dass Kassajew sich anstrengt, etwas zu begreifen.
»Und … gekauft hast du es für wie viel?«
»Für vierzig«, sagt Schatalin bescheiden.
»Für vierzig? Aber das ist ja Spekulation«, schreit Kassajew.
»Das haben sie vor Gericht auch gesagt, Valentin Iwanowitsch: Spekulation.«
»M-hm … Und wie viel haben sie dir gegeben?«
»Erschießung mit Ersetzung durch zehn Jahre.«
»Erschießung? Für Trennfutter?«
»Ja, Valentin Iwanowitsch.«
»Na, wir müssen los«, ärgerlich steht der Geologe auf.
Kassajew:
»Und dann habe ich noch in Sibirien in der Forstwirtschaft gearbeitet.Eine große Forstwirtschaft, staatliche Pferde. Den Pferden waren allen die Mäuler zugebunden. Dort sind die Pferde krank. Das Futter ist gut, und das für die Menschen auch – der Löffel bleibt stecken, so einen Borschtsch kochen sie. Und sie zahlen gut. Mit einem Wort – eine ›Potz Wirtschaft‹.«
»Rotz-Wirtschaft? Die Pferde haben den Rotz.«
»Nicht Rotz, sondern Potz, ich rede Russisch mit dir.«
Bei Tomtor Ojmjakonskij, wo man im Herbst 1958 einen gigantischen Seenfisch fand, wo die jakutischen Kühe wie Ziegen über die Felsen springen und man die Pferde, kaum größer als Rentiere, im Winter nicht füttert – die Herde wandert im Schneesturm durch die Wälder und »scharrt« den Schnee, wie die Rentiere. Für unseren Traktor haben wir Winterwege angelegt mit einem Dreimeter-Schneerand. Ich bin über zehn Kilometer zu Fuß gelaufen, zweimal vielleicht hat mich eine Herde überholt. Und beim dritten Mal blieb von der Herde etwas liegen. Ich ging näher ran – ein totes neugeborenes Fohlen[79], noch warm, das schon Reif ansetzte[80].
Der freie Zimmerhäuer Gnesdilow wurde im Frühjahr aus dem Bergwerk entlassen, begann mit der Produktion von Preiselbeereis und machte über den Sommer Zehntausende Rubel. In der Siedlung Arkagala-Kohle leben dreihundert Mann, und im Lager tausend.
In der chirurgischen Abteilung ein frischer Fall: Autounfall. Brüche beider Ober- und Unterschenkel, Rippenbruch[81]. Kopfverletzung. Der Barackendienst aus der Nachbarsiedlung fuhr in der Nacht nach Debin, war auf die »Trasse« getreten und hatte, als er ein Auto kommen sah, die Hand gehoben. Weiter erinnert er sich an nichts. Das Auto wurde ermittelt. Zum Unglück des Barackendienstes saß in der Kabine der Kassierer, er fuhr Geld auf die Bank. Das Gericht sprach den Fahrer frei, der nachts mit voller Geschwindigkeit einen Menschen überfahren hat.
Kadyktschan. Ich habe auf dem Pfad Rübenschalen gesehen, noch nicht gefroren, nur mit einer Eishaut bedeckt. Nur ein Freier kann einen solchen Schatz wegwerfen. Ich sammelte alle auf und aß sie.
Im »Vitaminkombinat« kocht man einen Krummholz-Extrakt aus den Nadeln der Zirbel. Vorbereitet werden die Nadeln an sogenannten »Vitaminaußenstellen«, wo es eine Hungerration gibt, wo »dochodjagi« die Nadeln »zupfen« und in Säcke stopfen und die Geschickteren Steine in den Sack stecken für das Gewicht. Hunderte hungriger Sammler, die den Plan erfüllen oder nicht erfüllen. Das Scheußlichste ist, man wird überall mit Gewalt genötigt, das Krummholz, eine äußerst bittere widerwärtige Flüssigkeit, zu trinken, und Vitamin C ist in dem Extrakt überhaupt nicht enthalten. Jahrzehntelang quälte man die Leute, in den Kantinen war es verboten, das Mittagessen auszugeben, bevor die »gesundheitsfördernde« Dosis getrunken war – um später zu sagen, das war keine Arznei. Die Therapie selbst wurde in eine Folter verwandelt. Die klügeren, gewissenhafteren Ärzte verstanden das.
Als Kind spielte er Pistonkornett, und das führte zu seiner Karriere als Militär.
Es schüttete im Sommer 1938. Platzregen den dritten Tag. Alle Brigaden saßen zu Hause, und nur die »Trotzkisten« wurden im Regen herausgeführt. Der Begleitposten kroch unter den Pilz, und wir bohrten. Mein Nachbar im Schurfgraben (Poljanskij) schrie los:
»Hör mal! Hör mal! Ich habe begriffen, dass das Leben keinen Sinn hat. Keinen Sinn.«
Ich schwieg.
Am nächsten Tag legte sich Poljanskij unter einen Förderwagen, der von der Halde den steilen Hang hinabfuhr, der Förderwagen sprang über Poljanskijs Beine und schrammte sie ein wenig. Er stand auf und drohte dem Förderwagen mit der Faust.
Orlow, einer der Referenten Kirows*, mein Partner bei »leichter Arbeit« – Holzsägen für den Boiler.
»Kannst du die Säge schärfen[82]?« Das frage ich Orlow.
»Ich denke, jeder Mensch mit Hochschulbildung kann eine Quersäge schärfen.«
Kliwanskij zu mir:
»Unsere Brigade hat die Norm zu 40 % erfüllt – Strafration! Außerdem gibt es die Produktions-, die Stoßarbeiter- und die Stachanowration. Und zwei aus unserer Brigade haben die höchste Bewertung erhalten. Das sind die Stachanowarbeiter der Krankheit«, schrie Kliwanskij, »sie haben einen Rabatt.«
Den ganzen Krieg (vier Jahre) gab es amerikanisches Brot aus weißem kanadischen Weizen mit Maismehl. Die Häftlinge liebten dieses üppige Brot, die gewaltigen »Rationen«, aber Skeptiker sagten:
»Was ist das für ein Brot – keinerlei Scheiße, schon den zehnten Tag kann ich nicht austreten.«
Die Verteiler hassten dieses Brot. Das Brot bekamen sie nach Gewicht am Vorabend aus der Bäckerei, und über Nacht trocknete es ein. Wenn sie es nachts zu Rationen schnitten, zu 300, zu 400 Gramm, waren am Morgen, im Moment der Verteilung, 20–30 Gramm in jeder solchen »Ration« verloren. Eine große Tragödie mit Tränen, und manchmal auch mit Blut. Mit Fluchen und Eingaben und Schlägen auf jeden Fall. Nach den vier Jahren seufzten die Verteiler erleichtert.
Der Bauch des Dampfers[83] »Kulu« in Wladiwostok. Serjosha Kliwanskij, Wawilow und ich – möglichst nah ans Licht, möglichst nah an die Treppe. Mit uns lässt sich auch ein älterer, gefängnishaft bleicher Mann nieder, mit grünlichgelbem Gesicht. In der Hand hält er ein Buch, das einzige im Schiffsbauch. Und dazu noch etwas wie die »rothäutige Passportina«*, der Majakowskij-Band im roten Kartoneinband.
»Wir sind die-und-die.«
»Und ich Chrenow. Erinnern Sie sich bei Majakowskij«, er blättert in dem rothäutigen Band, »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«.
»Steht hier die Gartenstadt?« Wawilow lacht laut.
»Genau, genau.«
»Die rothäutige Passportina wird Sie hier nicht retten«, erklärt Kliwanskij.
Chrenow fürchtet sich, er ist schwerer Herzpatient. Doch das Paradox – die Krankheit hat Chrenow gerettet. Er schaffte es, seine Haftzeit zu beenden und als freier Bergwerkschef zu arbeiten, doch aufs »Festland« zurückzukehren schaffte er nicht. Er war »lebenslänglich«* ortsgebunden und starb, glaube ich, bald nach dem Krieg.
Die Brotausgabe im Durchgangslager in Sussuman. Eine Riesenschlange. Die Bude des Brotschneiders steht im Freien. Um sie herum vier Soldaten mit gefälltem Gewehr. Jeder Häftling kommt heran, erhält aus dem Fenster einen »Sechshunderter« und verschlingt ihn gleich, würgend, eilig – wenn er es nicht schafft, ihn aufzuessen, dann rauben, dann entreißen ihn ihm die Ganoven, die unweit sich drängen. Die vier Begleitposten bewachen ebendiesen Stehimbiss. Man hat versucht, das Brot in der Baracke auszuteilen – die Ganoven rauben es. Ohne Begleitposten zu verteilen – sie rauben es. Jetzt schafft es jeder, seine Tagesration hinunterzuschlingen.
Erziehungsarbeit unter den Ganoven. Ein Bergwerk, »Partisan«, 1938, im Winter – Januar – Februar, der Erzieher der Kultur- und Erziehungsabteilung Scharow: