Und als sie anfingen zu schlagen – Sujew, der Brigadier, schlug als Erster —, war klar, dass die Kräfte fehlten. Sie schlagen die Schwachen, die Geschwächten. Mich schlugen sie unendlich viele Mal.
Poljanskij Ende 1938:
»Als ich sah, wie du läufst, mit den Sohlen über die Erde schlurfst, dachte ich: er tut als ob. Und jetzt habe ich selbst begriffen, dass die Kräfte fehlen, den Fuß zu heben, den Schritt über eine Schwelle, ein Hügelchen zu tun.«
Die erste Begegnung mit den Ganoven. Sie rissen mir einen Tabaksbeutel mit Machorka aus der Hand. Ich rannte dem Dieb nach, lief ihm hinterher in irgendeine Baracke, und der Barackendienst brachte mich mit einem Schlag mit dem Holzscheit zu Boden. Ich stand auf und ging. Danach habe ich mir bis zum Krankenhaus, bis ich Feldscher wurde, ganze acht Jahre lang keinen Tabaksbeutel mehr angeschafft. Die Machorka schüttete ich gleich in die Tasche. Das hatte einen besonderen Häftlings-Charme:
»Kratzen wir zusammen?«
»Lass uns zusammenkratzen.«
Zusammenkratzen konnte man beinahe endlos, denn wenigstens drei Tabakkrümel[76] fanden sich unbedingt. Zwar ist das Rauchen dieser drei Krümel etwas Relatives, aber trotzdem.
»Gib mir, Wronskij, ein bisschen Tabak.«
Wronskij, der Bergbauingenieur:
»Ich habe keinen.«
»Na, drei Krümel.«
»Drei Krümel meinetwegen.«
Einander um Brot zu bitten ist unanständig, unzulässig. Aber um einen Hering zu bitten ist üblich. »Erlauben Sie nachzusalzen?« Übrigens war auch mit solchen Bitten anzukommen nicht überall üblich.
Den Hering aß man immer mitsamt der Haut, dem Kopf, den Gräten …
Der vollkommenste Schurke, den ich im Leben gesehen habe, ist Doktor Doktor, der ehemalige Chef des Zentralkrankenhauses der USWITL am Linken Ufer (und vorher an Kilometer 23); das war ein rachsüchtiger Nichtsnutz, grausam und gewissenlos, der den Leuten das Allerschlechteste wünschte. Selbst bestechlich, ein Profiteur und Speichellecker[77], hielt er endlose Vorträge über die Wachsamkeit. Verjagt und rausgeworfen wurde er von Schtscherbakow, einem etwas kleineren Schurken.
Doktor Utrobin, der oft betrunken operierte, erwarb sich aufgrund der Ergebnisse seiner Operationen bei den Kranken und Ärzten den Spitznamen »Ugrobin«*.
Doktor Lunin, Sergej Michajlowitsch, ein Urenkel des Dekabristen, mit der unbezähmbaren Leidenschaft, den Chefs näherzukommen. Man ließ ihn in Arkagala frei dank seiner Verbindung zu einer Krankenschwester, einem Parteimitglied »mit Verbindungen«. Sie hatte Lunins Freilassung erkämpft und erkämpfte für ihn noch in der Stalinzeit die Erlaubnis, in Moskau das Medizinische Institut abzuschließen und das Arztdiplom zu erwerben. Sie heiratete Lunin, opferte (zu jenen Zeiten das gewöhnliche Risiko bei einer Verbindung mit einem »Nichtarier«) den Parteiausweis, und als Lunin das Diplom hatte, verließ er sie, dieser Urenkel des Dekabristen. Ich kannte sowohl ihn als auch sie. Als ich fragte:
»Warum haben Sie sich getrennt?«, lachte S. M. laut und sagte:
»Zu viele Verwandte, und alle, weißt du, von einer bestimmten Nation.«
Ich redete nicht mehr mit ihm. In der chirurgischen Abteilung begann der Suff, kurz, er war der Urenkel des Dekabristen…
Ein Leutnant der Panzertruppen, beschuldigt nicht der Menschenfresserei, sondern der Leichenfresserei. Rotwangig, mit blauen Augen.
»Ja, Bruder, ich habe im Leichenhaus immer ein Stückchen abgeschnitten. Gekocht und gegessen. Wie Kalbfleisch. Ich habe Hunger.«
Der Menschenfresser Solowjow, der klassischen katorga-Menschenfresserei beschuldigt. Auf die Flucht hatten sie einen Dritten mitgenommen, einen frajer*.
»Am zehnten Tag dann haben wir ihn nachts mit der Axt. Ganz haben wir ihn nicht gegessen. Haben ihn in einem kalten Bach unter einem Stein gelassen.«
Beide Freunde wurden von der Operativgruppe eingefangen und waren geständig.
Menschenfresser, zwei Menschenfresser wohnten an der Transport-Außenstelle bei Baragon (wohin Korolenko* verbannt war). Sie waren längst entlassen und sparten »fürs Festland«. Sie töteten einzelne Durchreisende, die über Nacht blieben, wie bei Ostrowskij, »Am verkehrsreichsten Platz«* – sie raubten sie aus, und das Fleisch aßen sie auf. Nach der Verhaftung zeigten sie die Schädel der Getöteten und die Knochen. Diese Menschenfresser kenne ich nur aus Erzählungen.
Ein russischer Rockefeller der ersten Generation, ein Sammler von Besitztümern – Aleksej Schatalin, aus Tula. Verurteilt zur Erschießung, Ersetzung durch zehn Jahre. Zulieferung von Pferden an die Armee, aller möglicher Untergrundhandel »von der Nähnadel bis zur Fabrik«, wie sich Schatalin ausdrückt.
»Als Kind, wenn ich in den Laden ging, dachte ich – wenn ich groß bin, will ich auch so einen haben, und dann erweitere ich ihn. Als Jugendlicher habe ich überlegt: was verschafft dem Menschen eine feste gesellschaftliche Position. Und die Antwort: Kapital und Bildung.
Bildung – das bedeutet 10–15 Jahre angestrengter Arbeit. Ich wählte das Kapital. Und begann als Händler. Dann sofort – die Revolution, und kein Ende absehbar. Mein Vater, er war Kutscher in Tula, stellte dem Grafen Bobrinskij die Pferde für die letzte Abreise. Du kanntest den Grafen Bobrinskij? Der eine Bäuerin geheiratet hat, deren Vater gräflicher Leibeigener war? Vier Sprachen konnte sie, hatte das ganze Leben im Ausland verbracht. Jetzt ist sie wahrscheinlich gestorben. Bobrinskij selbst wurde wegen dieser Ehe nirgends empfangen in adligen Häusern.
Die Bildung hat mich trotzdem reingelegt. Ich habe Steine verkauft gegen Valuta und beim Dollarkurs danebengehauen. Gründliche ökonomische Kenntnisse besitze ich nicht.
Den Umsatz hat bei mir der Untersuchungsführer reingeschrieben: zwei Millionen im Jahr. Das war 1932. Bei der Durchsuchung haben sie mir, weißt du, zweihundertfünfzigtausend in bar abgenommen. Mir tut es darum nicht leid. Gibt es ein Leben, dann gibt es auch Geld.«
Bystrow (Vorarbeiter):
»Du, Schatalin, arbeitest schlecht. Sieh zu, ich gebe dir die Strafmahlzeit.«
Bystrow schimmert rosig vor Zufriedenheit. Zu mir hatte er bei unserer ersten Begegnung gesagt:
»Soll ich Ihnen schmutzige Arbeit geben oder saubere?«
»Ganz egal.«
»Es gibt sowieso nur schmutzige.«
Jetzt bin ich nicht beim Bau, sondern beim Bergbau, und mein Herr ist Kassajew, Gitarrenspieler. Schnell gab er seine Spitzen an Schatalin weiter.
»Du, Bystrow«, sagt Schatalin gemächlich, »gib mir doch wenigstens eine halbe Schüssel, aber dass die Schüssel groß ist wie ein Pferdeeimer.«
Kassajew läuft täglich die Schurfgräben[78] ab. In Friseur Genkas Grube ist der Schurfgraben nicht tief, einen halben Meter vielleicht. Kassajew springt hinunter in den Schurfgraben, die Gummistiefel klatschen. Genka, auf dem Rand der Grube sitzend, steht auf. Kassajew hebt Genkas Hacke hoch und schaut sie an.
»Eins kann man sagen – schonender Umgang mit dem Gerät.«
Genka schweigt und lächelt respektvoll. Plötzlich fängt Kassajew an, die Sohle zu hacken und den Schurfgraben zu verbreitern. Zehn Minuten Arbeit, und der Schurfgraben ist zugeschüttet mit Gestein. Kassajew stellt die Hacke in eine Ecke des Schurfgrabens.
»So muss man arbeiten. Ich könnte ein guter Hauer sein, nur«, sagt der Ingenieur, »wozu zum Teufel brauche ich das.«
»Ich denke auch, Valentin Iwanowitsch«, sagt Genka respektvoll, »wozu zum Teufel brauche ich das.«
Der Weg zur Arbeit – um die sieben Kilometer. Auf der Hälfte des Wegs ein Hügel, bläulich von Rentiermoos, und eine riesige umgestürzte morsche Lärche. Hier ruht man sich immer aus. Wir sind drei, Kassajew, Schatalin und ich.