Ich denke, der freie Chef meines Barackendienstes hätte ihn, wenn er erfahren hätte, dass der das winzige Kabinett selbst putzt, hinausgejagt zu den allgemeinen Arbeiten, weil er die ihm zustehende Macht nicht zu nutzen weiß und ihn, den Chef, mit Schande befleckt. Ganz Magadan hätte laut gelacht: das ist der Chef, dessen Barackendienst selbst die Böden wischt. Ich bekam Brot, der Barackendienst schüttete mir Machorka für eine Selbstgedrehte ab und [gab] mir einen Kupon für die Kantine, und [ich] habe entweder gegessen oder ihn meinen Nachbarn gegeben. Das Durchgangslager fing sogar an mir zu gefallen. Aber die Chefs waren nicht so einfach. Der riesige Speicher mit den vierstöckigen Pritschen[88] im Durchgangslager war leer. Bei einem Appell waren wir noch hundert Mann, und manchmal noch weniger. Nach dem nächsten Aufrufen entließ uns der Arbeitsanweiser nicht in die Baracke. Wohin sonst?
»Wir gehen in die URTsch zum Fingerabdrücke machen.«
Wir kamen in die URTsch.
»Wie ist dein Name?«
»Schalamow.«
»Und was meldest du dich zwei Monate nicht?«
»Ich habe nichts gehört, jeden Tag gehe ich zum Appell, man hat mich nie aufgerufen.«
»Weg hier, Kanaille.«
Wir mussten uns fertigmachen für die Etappe, und man schickte uns los, aber nicht in die Landwirtschaft oder zum Fischfang, sondern zur Kohleerkundung an den Schwarzen See. Zum Glück als Invaliden zur Versorgung von Freien, von Freien – gerade freigelassenen Häftlingen – ebenfalls aus dem Durchgangslager, aber Freien, die mit Dalstroj einen Jahresvertrag unterschrieben hatten, um sich etwas dazuzuverdienen. Der Chef des neuen Kohlereviers Paramonow, dem man keine Häftlinge gab – die wurden ins Gold gejagt —, erbat sich wenigstens sechs Mann zur Versorgung seiner freien Arbeiter. Ich sollte als Wassersieder[89] fahren, Gordejew als Wächter, Filippowskij als Badewärter, Nagibin als Ofensetzer, Frisorger als Tischler.
Die Freien hatten keine Kopeke, alles, bis auf die Wäsche, war verkauft oder verspielt im freien Durchgangslager, am sogenannten Karpunkt, der Quarantänestation, was dasselbe war wie die Etappe für die Häftlinge, nur kleiner – dieselbe Zone, dieselben Baracken. Der Karpunkt lag ganz dicht an der Etappe. Dieselben leeren Pritschen. Der Karpunkt hatte sich ebenfalls geleert. Die Dampfer waren abgefahren.
Und diese Habenichtse also hatte Paramonow an den Schwarzen See zur Kohleerkundung geholt, wo man nach Kohle suchte. Kohle und nicht Gold. Als wir zum ersten Mal in Atka übernachteten, im Klub der Straßenbauer, breiteten wir auf den Pritschen das Zelt aus, mit dem wir uns unterwegs auf dem Auto bedeckt hatten, und schliefen und schliefen. Die Freien hatten keine Kopeke Geld. Wir mussten Tabak kaufen. Es gab auch Machorka im freien Lager, und sie hatten das Recht, sie zu kaufen, sie waren schon keine Häftlinge mehr. Aber Geld hatte niemand. Der alte Nagibin gab ihnen einen Rubel, und für diesen Rubel wurde Machorka gekauft, unter allen gleich verteilt – Häftlingen wie Freien – und geraucht. Am nächsten Tag kam der Chef angereist und gab irgendwelches Geld aus.
Der Revierchef Paramonow war ein Kolyma-Veteran. Ein Lagerrevier des NKWD eröffnete er nicht zum ersten Mal. So hatte eben Paramonow Maldjak eröffnet, den berühmten Bergwerksgiganten an der Kolyma – mit bis zu zwanzigtausend Mann Listenbelegschaft[90]. Und die Sterblichkeit lag 1938 sogar über der gewöhnlichen Sterblichkeit an der Kolyma. Als General Gorbatow* Maldjak erreicht hatte, verwandelte er sich in zwei Wochen in einen Invaliden. Das sieht man aus den Erfassungen der Zeit; angekommen – ausgeschieden. Angekommen als Arbeiter, ausgeschieden als Invalide. Der so kurzzeitige Aufenthalt in Maldjak gab General Gorbatow nicht die Möglichkeit, sich dort zurechtzufinden – er schreibt: In Maldjak waren 800 Mann, und gerettet hat ihn der Feldscher, er schickte ihn als Invaliden nach Magadan. Kein Lagerfeldscher hatte das Recht und die Möglichkeit dazu. Gorbatow »lief auf Grund« in einem der Abschnitte von Maldjak, dem Bergwerksgiganten. In Schturmowoj waren zu dieser Zeit vierzehntausend Mann, in Werchnij At-Urjach zwölftausend. In drei Wochen auf Grund laufen, das ist die normale Frist für jeden Menschen – unter Schlägen, Hunger, Kälte und vierzehnstündiger Arbeit. Genau drei Wochen sind die Frist, die aus einem Athleten einen Invaliden macht.
Paramonow hatte im Gespräch mit den Freien eine ständige scherzhafte Redensart: »Ihr fahrt im Zylinder nach Hause …«
Paramonow war kein schlechter Chef, wenn er unterwegs war, steuerten das Leben des Schwarzsee-Staates gemeinsam der freie Einsatzleiter Kassajew und der Bauvorarbeiter Bystrow. Bystrow war ehemaliger Häftling und Kassajew Ingenieur und Geologe, oder Geologietechniker, ein Vertragsarbeiter, ein Freier.
Als in Paramonows Abwesenheit Kassajew und Bystrow die Ausgabe von Wodka an uns Häftlinge nicht erlaubten – an allen möglichen Kognaks und Bränden gab es im Lagerhaus Unmengen, die Polarration – und wir uns bei Paramonow beschwerten, wies er an, uns sogar für die vorigen Tage auszugeben.
»Die Tajga ist für alle dieselbe«, sagte er düster.
Wir aßen aus einem gemeinsamen Kessel[91] mit den Freien (sechs Häftlinge und fünfundzwanzig Freie). Wir konnten alles Mögliche bestellen, Zwieback, Butter, Zucker.
Kostenlos – wer nicht wollte, zahlte das Geld auf ein laufendes Konto. Das tat nur einer von uns, der Tischler Pikuljow, der später gekommen war. Nachher, als diese Bezüge abgeschafft wurden,
Ich aber handelte nach dem ewigen Lagergesetz: »Fang das Essen mit dem Besten an.«
Paramonow war selten am Schwarzen See. Er arbeitete mehr in Magadan – setzte sich ein, bemühte sich für das Revier um alles, was ihm zustand. Durch seine
Plötzlich wurde Paramonow abgelöst wegen Veruntreuung – der Entwendung, dem Diebstahl und direkten Verkauf von Konzentraten, Nudelaufläufen, Fleisch- und Milchkonserven. Man wollte ihn vor Gericht stellen, aber tat es nicht – er wurde aus dem Dalstroj entlassen.
An seiner statt übernahm den Schwarzen See Bogdanow, ein ehemaliger Bevollmächtigter des MWD und des Prozesses von 1938*.
Bogdanow gab täglich Befehle zu Disziplin und Wachsamkeit aus und baute einen Karzer. Er war derselbe Chef, der Briefe entgegennahm, Briefe an mich von meiner Frau – zu der die Verbindung etwa drei Jahre abgebrochen war – und diese Briefe in meinem Beisein zerriss, wozu er mich in seine Wohnung lud. Und die Fetzen warf er in den Müll. All das habe ich in der Erzählung »Bogdanow« beschrieben, mit aller dokumentarischen Verantwortung.
Bogdanow trank Tag und Nacht. Und trug den Alkohol sogar vom Lagerhaus zu sich in die Wohnung. Sein Sekretär Fedja Kartaschow sagte, dass sein Chef vom Morgen an trinkt, vom Aufstehen an, und bis in den Abend – das letzte Mal zur Nacht. All die drei Monate, die Kartaschow bei ihm als Sekretär arbeitete.
In einer Mondnacht, im Winter, erschien am Schwarzen See ein Mann im Mantel mit Pelzkragen von deutlich anderer Machart als an der Kolyma.
Er erschien im Kontor, dem Nachtwächter hatte er einen
Kartaschow beschloss, Bogdanow trotzdem zu wecken – ihm war klar, Bogdanow würde ihm dieses Versäumnis nicht verzeihen.