Шаламов Варлам Тихонович - Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке стр 7.

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Wo liegt es, in welcher Ecke, was davon ist vergessen, was geblieben? Ich sage gleich, geblieben ist nicht das Wichtigste, geblieben ist nicht das Eindrücklichste und nicht das Größte, sondern quasi das Unnötige des damaligen Lebens. Es gab 1938 kein jähes Eintauchen ins Elend, in die Hölle, ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich[54], alltäglich und allnächtlich.

Das wohl Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55 Grad. Man haschte nach diesem 56. Grad Celsius, den man an der Spucke bestimmte, die in der Luft gefror, am Geräusch des Frostes, denn der Frost hat eine Sprache, die auf Jakutisch* »Sternenflüstern« heißt. Dieses Sternenflüstern hatten wir uns schnell und grausam angeeignet. Die allerersten Erfrierungen: Finger, Hände, Nase, Ohren und Gesicht, alles, was mit der kleinsten Luftbewegung Frost abbekommt. In den Bergen der Kolyma gibt es keinen Ort, an dem nicht Winde blasen. Die Kälte ist wohl das Schrecklichste. Ich habe mir einmal den Bauch erfroren – der Wind schlug die Wattejoppe auf, während ich in die Kantine lief. Ich bin aber auch nicht gelaufen, an der Kolyma läuft niemand – alle schieben sich nur voran. Ich hatte nicht daran gedacht, als mir in der Kantine der Tabaksbeutel mit Machorka entrissen wurde. Als naiver Mensch hatte ich den Beutel in der Hand gehalten. Ein junger Ganove riss ihn mir aus den Händen und rannte los. Ich rannte ihm hinterher, aber konnte keinen Sprung machen, um meine Beute zu schnappen. Der junge Kerl sprang in die Baracke, ich ihm nach, und sofort wurde ich von einem Schlag mit einem Holzscheit auf den Kopf betäubt – und aus der Baracke hinausgeworfen. Und diesen Schlag habe ich behalten, weil in mir noch irgendwelche menschlichen Gefühle waren, Rache, Wut. Später war all das zerschlagen und verloren.

Ich erinnere mich auch, wie ich hinter einem Tanklaster krieche, er hat Sonnenblumenöl geladen, und mit einem Brecheisen[55] den Tank nicht einschlagen kann – mir fehlen die Kräfte, und ich werfe das Brecheisen weg. Doch die erfahrene Hand eines Ganoven liest das Brecheisen auf, schlägt auf den Tank, und Öl fließt in den Schnee, das wir im Schnee auffangen und gleich mitsamt dem Schnee hinunterschlucken. Natürlich, das meiste räumen die Ganoven ab in Kochgeschirre und Dosen, bis der Laster . Ich krieche mit irgendeinem Kameraden hinter dieser Ölspur her, sammle die fremde Beute ein. Ich spüre, dass ich dünner und dünner werde, geradezu ausdörre von Tag zu Tag – mir fehlt es an Nahrung, ich bin immer hungrig.

Der Hunger ist die zweite Kraft, die mich in kurzer Frist zerstört, in zwei Wochen vielleicht, nicht mehr.

Die dritte Kraft sind die mangelnden Kräfte. Man lässt uns nicht schlafen, der Arbeitstag beträgt 14 Stunden gemäß Anweisung im Jahr 1938. Ich schleppe mich um die Grube herum, schlage irgendwelche Pfähle ein und hacke mit den erfrorenen Händen ohne Hoffnung, etwas zu schaffen. 14 Stunden plus zwei Stunden für das Frühstück, zwei Stunden für das Mittagessen und zwei Stunden für das Abendessen. Wie viel bleibt dann für den Schlaf, vier Stunden? Ich schlafe, ich lehne mich an, wie es kommt, und wo ich stehenbleibe, schlafe ich gleich ein.

Die Schläge sind die vierte Kraft. Den dochodjaga schlagen alle: der Begleitposten, der Arbeitsanweiser, der Brigadier, die Ganoven, der Kompaniekommandeur, und selbst der Friseur findet es angebracht, dem dochodjaga eine Kopfnuss zu verpassen. Zum dochodjaga wirst du dann, wenn du ausgezehrt bist von der kräfteübersteigenden Arbeit, ohne Schlaf, unter Schwerarbeit, bei fünfzig Grad Frost.

Was wird das Gedächtnis hier auswerfen?

Dass ich mich nicht schnell bewegen kann, dass jedes Hügelchen, jede Unebenheit mir unüberwindlich erscheint. Eine Schwelle zu übertreten[56] fehlt die Kraft. Und das ist keine Verstellung, sondern der natürliche Zustand des dochodjaga.

Besser erinnere ich mich an anderes – nicht an heitere, im Licht erstrahlende Handlungen, an Kummer oder Not, sondern an ganz und gar gewöhnliche Zustände, in denen ich zwischen Wachen und Schlafen lebe. Meine Größe hat mir viel geschadet. Die Verpflegung wird ja nicht nach Größe ausgegeben.

Aber auch all das betrifft alle, wie ich erst später, während der Unterbrechungen* verstand, oder auch erst nach meiner Abreise von der Kolyma. Dort dachte ich über nichts dergleichen nach, und mein Gedächtnis musste Muskelgedächtnis sein – wie am geschicktesten fallen nach dem unausweichlichen Schlag. Ich erinnere mich an keinen einzigen damaligen Wunsch von mir, außer essen, schlafen, ausruhen. An einen Sturm erinnere ich mich, es ist finster, eine Sirene dröhnt, um in der Finsternis den Weg zu weisen, blitzartig zieht sich ein Schneesturm zusammen, und ich erinnere mich, ich krieche durch einen eisigen Hohlweg, habe mich längst verirrt, aber lasse den Passierschein in die Baracke nicht aus den Händen – den »Stock« Brennholz. Ich falle, krieche und stoße plötzlich auf ein Bauwerk, eine Erdhütte am Rand unserer Siedlung. Und – komme in eine fremde Baracke, man lässt mich natürlich nicht rein, aber ich kann mich schon orientieren und laufe nach Hause unter dem Pfeifen des Schneesturms[57]. Diese Baracke ist dieselbe, in der die 75 Verweigerer und Trotzkisten gesessen hatten, die zur Zeit des Schneesturms schon abtransportiert und erschossen waren.

Jeden Tag bringt man uns zum Ausrücken und verliest beim Licht der Fackeln die Listen der Erschossenen. Lange Listen. Verlesen wird jeden Tag. Viele meiner Barackenkameraden waren in diese tödlichen Handschläge des Oberst Garanin geraten.

Auch an Garanin erinnere ich mich. Viele Male habe ich ihn gesehen im »Partisan«.

Doch nicht davon, dass ich ihn gesehen habe, will ich erzählen, sondern von den Muskelschmerzen, vom Schmerzen der abgefrorenen Beine, von den Wunden, die nicht heilen wollen, von den Läusen, die sofort zur Stelle sind und den dochodjaga beißen. Ein Schal, voll mit Läusen, taumelt im Licht der Lampe. Aber das war schon wesentlich später, auch 1938 gab es viele Läuse, doch nicht so, wie in der Spezialzone während des Kriegs.

Die Schüsse, die Pferdeschlitten, die wir ziehen anstelle der Pferde, zu sechst ins Geschirr gespannt. Arbeitsverweigerung – Schüsse über die Köpfe hinweg und das Kommando: »Hinlegen! Aufstehen!« Und Hetze mit dem Hund, der mir die ganze Wattejoppe und die Hosen in Fetzen gerissen hat. Doch zum Arbeiten konnten sie mich auch mit dem Hund nicht zwingen. Nicht, weil ich ein Held bin, sondern weil ich noch die hatte für den Starrsinn, für den Kampf um Gerechtigkeit. Das war im Frühling 1938. Unsere ganze Brigade wurde gezwungen, einmal nach Holz zu fahren – zwei weitere Stunden. Versprochen war, dass sie uns freigeben, und jetzt haben sie uns betrogen und schicken uns ein weiteres Mal. Sechs Schlitten. Geweigert haben sich nur ich und der Ganove Uschakow. Und wir sind auch nicht gegangen, man brachte uns in die Baracke, und damit war die Sache beendet.

Doch auch das ist es nicht, was ich in meinem Gedächtnis suche, ich suche eine Erklärung, wie ich zum dochodjaga wurde. Wovor hatte ich Angst? Welche Grenzen habe ich mir gesetzt?

Hoffnungen zumindest hatte ich gar keine, ich plante nicht über den heutigen Tag hinaus.

Was noch? Die Einsamkeit – es ist klar, dass du ein Aussätziger bist, du merkst, dass alle vor dir Angst haben, weil jeder spürt, du gehörst zu den KRTD, den Kürzelträgern. Wir verfügen nicht über unser Schicksal, aber ich werde jeden Tag irgendwohin zur Arbeit aufgerufen, und ich gehe hin. Bei der Arbeit spüre ich – ich packe den Griff der Hacke, von ihm sind meine Finger gekrümmt[58], und ich kann sie nur im Badehaus aufbiegen oder auch im Badehaus nicht – an diese Empfindung erinnere ich mich. Wie ich mit der Hacke fuchtele[59], endlos mit der [unleserl.] Schaufel fuchtle, und es kommt mir nur so vor, als ob ich gut arbeite. Ich habe mich längst in einen dochodjaga verwandelt, auf den man nicht rechnen kann. Ich besitze Geschick und auch Geduld. Es fehlt nur das Allerwichtigste, das Wertvollste für die »Kader« der Kolyma —physische Kraft. Das erkenne ich nicht sofort, allerdings ein für alle Mal, für mein ganzes siebzehnjähriges Leben an der Kolyma. Meine Kraft ist geschwunden und nie mehr zurückgekehrt. Geblieben ist das Können. Eine neue Haut ist gewachsen, nur die Kraft hat mich verlassen.

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