Hier so gefangen zu sein, erfüllte Ceres mit Wut. Sie zog, rüttelte an ihren Ketten und versuchte, ihre Kräfte zu wecken. Nichts passierte.
Es kam ihr vor, als wäre ein Nebel in ihrem Kopf aufgezogen und sie versuchte, durch ihn hindurch zu blicken, um die Landschaft auf der anderen Seite zu erkennen. Hier und dort drang das Licht der Erinnerung durch diesen Nebel, aber sie blieb bruchstückhaft.
Sie konnte sich daran erinnern, wie sich die Tore zur Stadt geöffnet hatten und die „Rebellen“ sie so zu sich hineingewunken hatten. Sie hatten sich auf den Weg gemacht und alles, was ihnen zur Verfügung stand, mobilisiert, denn sie hatten geglaubt, dass dies die entscheidende Schlacht um die Stadt sein würde.
Ceres sank zusammen. Es tat weh, und einige Wunden saßen tiefer, als körperliche Wunden reichen konnten.
„Jemand hat uns betrogen“, sagte Ceres leise.
Sie hatten kurz vor dem Sieg gestanden und jemand hatte sie allesamt betrogen. Weil Geld gelockt hatte oder Angst oder das Verlangen nach Macht, jemand hatte all das aufgegeben, wofür sie gekämpft hatten und hatte sie in eine Falle gelockt.
Jetzt konnte sich Ceres erinnern. Si erinnerte sich an den Anblick von Lord Wests Neffen, wie ein Pfeil aus seinem Hals ragte, die Blicke von Hilflosigkeit und Unglauben, die ihm im Gesicht gestanden hatten, bevor er aus dem Sattel gerutscht war.
Sie erinnerte sich an die Pfeile, die den Himmel verdunkelt hatten und an die Barrikaden und das Feuer.
Lord Wests Männer hatten versucht, sich gegen die Bogenschützen zur Wehr zu setzen. Ceres hatte gesehen, wie fähig ihre Reiterschützen auf dem Weg nach Delos gewesen waren, sie waren selbst bei rasendem Galopp geschickt im Umgang mit kleinen Bögen und Feuer. Als sie ihre ersten Pfeile in Richtung des Feinds schickten, hatte Ceres sogar zu hoffen gewagt, denn nichts schien diese Männer in die Knie zwingen zu können.
Doch sie wurde enttäuscht. Mit den von Lucious auf den Dächern postierten Bogenschützen, lag ein zu großer Vorteil auf Seiten der Feinde. Irgendwo in dem Chaos kamen dann zusätzlich zu den Pfeilen auch Feuertöpfe zum Einsatz, und Ceres erinnerte sich an ihr Entsetzen, als sie mit ansehen musste, wie ihre Männer in Flammen aufgingen. Nur Lucious war es zuzutrauen, dass er Feuer in seiner eigenen Stadt einsetzte und sich nicht darum scherte, ob die umliegenden Häuser auch Feuer fingen. Ceres hatte Pferde gesehen, die sich panisch aufbäumten und ihre Reiter abwarfen.
Ceres hätte in der Lage sein müssen, sie zu retten. Sie hatte nach der Kraft in ihr gesucht und hatte nichts als Leere gefunden, ein schwarzes Loch, wo Stärke und Macht, den Feind zu zerstören, hätte schlummern sollen.
Sie suchte noch immer nach einem Zugang zu ihren Kräften, als auch ihr Pferd sich sträubte und sie abwarf...
Ceres zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart zu kehren, denn es gab in ihren Erinnerungen Orte, an denen sie nicht länger verweilen wollte. Doch auch die Gegenwart sah nicht viel rosiger aus. Dort draußen konnte Ceres die Schreie eines sterbenden Mannes hören.
Ceres trat an das Fenster, soweit ihre Ketten dies zuließen. Selbst das kostete sie eine enorme Kraftanstrengung. Sie fühlte sich, als hätte jemand sie ausgesogen, ihr ihre Kräfte gestohlen, die ihr sonst geholfen hätten. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich gerade noch auf den Beinen halten konnte. Sich von ihren Ketten loszureißen, schien dabei ein unmögliches Unterfangen.
Sie schaffte es bis ans Fenster und umklammerte die Gitterstäbe, als wollte sie sie herausbrechen. Tatsächlich waren sie beinahe das Einzige, was sie aufrecht stehen ließ. Als sie hinunter in den Hof unter ihrer neuen Zelle blickte, brauchte sie diese neue Stütze auch dringend.
Ceres sah Lord Wests Männer in mehreren Reihen stehen. Jeder von ihnen trug noch Reste seiner Rüstungen, auch wenn in den meisten Fällen Teile abgebrochen oder zerfetzt worden waren. Keiner trug mehr eine Waffe. Ihre Hände waren zusammengebunden und viele von ihnen knieten. Etwas Trauriges lag in diesem Anblick. Er sprach von einer Niederlage, die klarer nicht hätte sein können.
Ceres erkannte unter ihnen auch ihr bekannte Rebellen und der Ausdruck in ihren Gesichtern drehte ihr noch einmal mehr den Magen um. Lord Wests Männer hatten sich ihr bereitwillig angeschlossen. Sie hatten für sie ihr Leben riskiert, und Ceres fühlte sich für sie verantwortlich, doch kannte sie die Männer und Frauen dort unten.
Sie erblickte Anka. Anka stand mitten unter ihnen, ihre Arme waren so an einen Pfahl festgebunden, dass sie sich weder setzen noch hinknien konnte, um sich auszuruhen. Ein Seil war um ihren Hals geschlungen worden, sodass jeder Versuch sich zu entspannen, sie zu erwürgen drohte. Ceres konnte das Blut in ihrem Gesicht sehen, das dort klebte, als wäre es ein Symbol ihrer Nichtigkeit.
Dieser Anblick genügte, dass Ceres schlecht wurde. Es waren Freunde und in vielen Fällen Menschen, die sie seit Jahren kannte. Einige von ihnen waren verwundet. Wut überkam sie, denn niemand versuchte, ihnen zur Hilfe zu eilen. Sie standen oder knieten da, so wie es die Soldaten taten.
Dann sah sie das, worauf sie warteten. Ceres wusste nicht, wofür all das gut sein sollte, aber sie hatte eine Ahnung in Anbetracht der Dinge, die sie kannte. Pfahlstangen und Böcke, auf denen Menschen enthauptet werden konnten, Galgen und Pfannen aus heißem Eisen hatte man dort hingeschafft. Und mehr noch. So viel, dass Ceres kaum imstande war zu begreifen, welcher verdorbene Geist fähig war, diese Geräte in Betracht zu ziehen.
Dann sah sie Lucious unter ihnen und sie wusste es. Seinetwegen und auf eine gewisse Art auch ihretwegen. Wenn sie nur schneller gewesen wäre und ihn erwischt hätte, bevor er sich nach dem Duell aus dem Staub gemacht hatte. Wenn sie ihn nur zuvor irgendwie hätte umbringen können.
Lucious stand über dem schreienden Soldaten und stocherte mit seinem Schwert in dessen Fleisch, um ihm erneut den Klang seiner Todesqualen zu entlocken. Ceres konnte eine kleine Gruppe von Henkern in schwarzen Kapuzen um ihn sehen. Sie sahen aus, als machten sie sich Notizen, vielleicht schätzten sie aber auch nur denjenigen, der ihrer Profession solche Wertschätzung beimaß. Ceres wünschte, sie hätte nach ihnen greifen und sie alle töten können.
Lucious blickte auf und Ceres spürte den Moment, in dem sich ihre Augen trafen. Es war etwas, das dem ähnelte, was die Dichter besagen, wenn sie von den Augenblicken sangen, in denen sich die Augen der Liebenden trafen, nur dass es sich hierbei um den blanken Hass handelte. In diesem Moment hätte Ceres Lucious auf jede erdenkliche Art in den Tod schicken können, und sie konnte sehen, was er am liebsten mit ihr getan hätte.
Sie sah, wie sich langsam ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, und er drehte sein Schwert ein letztes Mal um, ohne die Augen von Ceres zu wenden. Dann richtete er sich auf und wischte sich gedankenverloren seine blutverschmierten Hände an einem Tuch ab. Er stand dort wie ein Schauspieler, der seinem wartenden Publikum gleich einen Monolog vortragen wollte. Doch für Ceres sah er einfach nur aus wie ein Schlächter.
„Jeder Mann und jede Frau hier ist ein Reichsverräter“, verkündete Lucious. „Aber ich denke, wir alle wissen, dass es nicht eure Schuld ist. Ihr seid in die Irre geführt worden, in Versuchung geführt worden vor allem durch eine bestimmte Person.“
Ceres sah, wie er erneut in ihre Richtung blitzte.
„Deshalb werde ich die Mitläufer unter euch begnadigen. Kommt zu mir gekrochen. Bettelt mich darum an, versklavt zu werden, und ihr werdet im Gegenzug euer Leben behalten. Das Reich kann ein paar Arbeitstiere immer gebrauchen.“