Шаламов Варлам Тихонович - Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке стр 9.

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… Eben hier, in den Einbrüchen des Gedächtnisses[66], verliert sich auch der Mensch. Der Mensch verliert sich nicht sofort. Der Mensch verliert die Kraft, und zusammen mit ihr auch die Moral. Denn das Lager ist der Triumph der physischen Kraft als moralischer Kategorie. Hier ist die Intelligenz von einer doppelten, dreifachen, vierfachen Gefahr umgeben. Iwan Iwanowitsch* wird niemals einen Kameraden unterstützen, und der Kamerad wird zum Ganoven, zum Feind, um sein Schicksal zu retten. Das ist ein Bauer, natürlich. Der Bauer wird sterben, wird ebenfalls sterben, aber nach der Intelligenz. Stirb du heute, und ich morgen. Die Ganoven stehen außerhalb des Moralgesetzes. Ihre Stärke ist die Zerstörung, doch auch bis zu ihnen wird Garanin kommen. Der Ganove, der Liebling Bersins, ist für Garanin ein Verweigerer. Doch es geht nicht darum, ich muss irgendeinen Schritt zu fassen bekommen, einen persönlichen eigenen Schritt, mit dem ein wichtiges Zugeständnis gemacht wurde: Beim Durchgehen im Gedächtnis, diesem Filmstreifen des Gehirns, sieht man, dass es auch kein Zugeständnis gab. Dieser Prozess ist zeitlich sehr kurz – du bist noch nicht einmal zum Zuträger geworden, man bittet dich nicht einmal darum, sondern jagt dich einfach zur Arbeit in die Kälte und in den endlosen Arbeitstag, in den Frost der Kolyma, der keine Schonung kennt.

Jemandes Augen überfliegen dich, wählen, bewerten und bestimmen deine Eignung zum Arbeitsvieh und ob deine letzten Schritte ins Paradies kurz oder lang sein werden. Du denkst nicht ans Paradies, denkst nicht an die Hölle – du spürst einfach jeden Tag Hunger, den nagenden Hunger[67], [unleserl.]. Und dein Kamerad, der stärker ist als du, der schlägt und rempelt[68] dich und weigert sich, mit dir zu arbeiten. Ich habe damals gar nicht begriffen, dass ein Bauer, der sich beim Brigadier und den Chefs über Iwan Iwanowitsch beschwert, einfach seine Haut rettet. All das war mir tief gleichgültig, all diese Sorgen um mein Schicksal als noch lebender Mensch.

Ich denke zurück, versuche an alles zurückzudenken, das im ersten Winter geschah – das heißt von November 1937 bis Mai 1938. Denn die übrigen Winter, es waren viele, habe ich irgendwie auf gleiche Weise aufgenommen – mit Gleichgültigkeit und Erbitterung, mit einer Beschränkung der Mittelressourcen zur Rettung: bei einem Schlag – umfallen, bei einem Fußtritt – sich zum Knäuel ballen[69] und den Bauch stärker schützen als das Gesicht.

Denunzianten sind alle, man denunziert einander gegenseitig von den allerersten Tagen an. Der Bauer aber verpfiff all die, die in den Gruben neben ihm standen und ein paar Tage vor ihm selbst starben.

»Sie sind es, Iwan Iwanowitsch, der uns vernichtet hat, Sie sind der Grund für all unsere Verhaftungen.«

Alles, um den Nachbarn ins Grab zu stoßen – durch ein Wort, mit dem Stock, mit der Schulter, mit einer Denunziation.

In diesem Kampf starben die Intelligenzler stumm, und wer hätte auch auf ihre Schreie gehört unter den erbitterten fuchsteufelswilden Charakteren – keinen Visagen natürlich, sondern ebensolchen dochodjagi. Doch sofern sich an einem Bauern, einem dochodjaga auch nur ein Stückchen Fleisch, ein Nervenfragment gehalten hatte – dann nutzte er es, um zu denunzieren oder seinen Nachbarn Iwan Iwanowitsch zu beleidigen, zu stoßen, zu schlagen, sich abzureagieren. Er selbst wird sterben, aber bevor er tot ist, soll zuerst der Intelligenzler ins Grab gehen.

Einer der Allerersten hat sich im [Gedächtnis] erhalten. Derfel, ein französischer Kommunist, aus Cayenne, ehemaliger TASS*-Mitarbeiter, flink und klein, was sehr günstig war – an der Kolyma ist es günstig, klein zu sein. Derfel hackte, und ich füllte in die Karre.

Derfel:

»In Cayenne, wo ich vor der Kolyma war, gibt es auch solche Steinbrüche, habe ich ebenfalls gehackt, Hacke und Karre, bloß gibt es dort nicht solche Kälte.«

Und es war noch goldener Herbst, darum habe ich mir auch den Tag gemerkt, den grauen Stein und das kleine Figürchen Derfels, der plötzlich mit der Hacke ausholte und umfiel, tot.

In dieser Zeit wurden alle in eine einzige Baracke getrieben, in ein Segeltuchzelt, wo man uns stehen ließ, etwa vierhundert Mann. Sie überprüften irgendetwas und schossen in die Luft. Und ich merkte, dass mein Nachbar, ein holländischer Komintern*-Mann im Samtwestchen, an meiner Schulter schläft, vor Schwäche das Bewusstsein verliert. Ich stieß ihn an, aber Fritz wachte nicht auf, sondern wurde langsam schwach und glitt auf den Boden. Doch da fingen sie an, uns aus dem Zelt hinauszuführen, hinauszustoßen, und er wachte auf und lief zusammen mit mir, und beim Rausgehen fiel er an der Baracke hin, und ich habe ihn nie wieder gesehen.

All das – Derfel, den Holländer Fritz – hat mein Gedächtnis eingefangen, aber an das Namenlose, das starb, haute, schubste und einen großen Teil meines Wesens füllte, jene Tage und Monate – kann ich mich einfach nicht erinnern.

Was war denn dort?

Als Vertreter der »Intelligenz« fühlte ich keinerlei »Schuld« vor dem Volk. Karrieristen und Geschäftemacher aber wittere ich dafür mit aller Kraft des Spürsinns[70] – und täusche mich nicht.

All das – Derfel wie auch das Festhalten bei der Arbeit der Kljujew-Brigade im Dezember 1937 – all das sind sozusagen die oberen Etagen meines Körpers. Schwer rückrufbar ist das, was das Gedächtnis nicht behielt – der Schmerz des Körpers und allein des Körpers.

Wir hatten keine Zeitungen, und die Korrespondenz wurde mir schon von einem Moskauer Papier* entzogen. Ich hatte keinen Wunsch, irgendetwas von Ereignissen außerhalb unserer Baracke zu wissen. All das war so unendlich unwichtig und auf lange, ein Dutzend oder noch mehr Jahre, aus dem Kreis meiner Interessen verdrängt.

Wie ist denn das passiert an meinem persönlichen Beispiel, dem Beispiel meines Körpers?

Schon die zweimonatige Etappe mit der Hungerration war Vorbereitung auf ernstere Dinge – die Schläge, die Kälte, die unendliche Arbeit, die mich im Dezember 1937 im »Partisan« empfing.

Die Beine wurden schwer, die Haut eiterte, es kamen Läuse, und die Hände erfroren und bekamen Blasen[71]. Doch all das war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war der ständige Hunger. Ich lernte schnell, das Brot getrennt von der Suppe zu essen, es später in einer Konservendose aufzukochen und aufzublähen[72] und aus dieser Dose zu schlürfen. Keinerlei Interesse an irgendeinem der Gespräche in der Baracke. Ich wollte meine Wäsche eintauschen gegen Brot, aber kam zu spät – es gab eine Durchsuchung, und alles Überzählige ging als Einnahme an den Staat. Aber auch das war mir egal. In Teilen meines Gehirns empfand ich wohl zwei . Die vollkommene Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Dass der Tod ein Glück wäre. Doch zum Tod konnte ich mich nicht entschließen aus irgendwelchen sonderbaren Gründen – der Schmerz in den Fingern nach der Erfrierung, ins Ambulatorium ging ich nicht, der Krankenhausfeldscher Ljogkoduch würde mich, wie damals alle Feldscher, als Intelligenzler und Trotzkist gleich zu den »Soldaten« geben. So machten es alle Feldscher und Ärzte in den Bergwerken, so machten es Lunin wie auch Mochnatsch. Acht Jahre nach 1937 taten dasselbe auch Winokurow, auch Doktor Doktor, auch Jampolskij – Kontakt mit dem Krankenhaus war gefährlich. Jedoch nicht qua Logik, sondern mit dem Instinkt eines Tiers begriff ich, dass ich nicht hingehen sollte, wo sich die »Stachanowarbeiter der Krankheit« drängen. Und tatsächlich, sie alle wurden in Garanins Tagen erschossen als Ballast. Und wer machte die Erschießungslisten? Für das »Partisan« waren das der Arbeiter Rjabow, Anissimow – der Bergwerkschef, Kowalenko, Chef des Lagerpunkts, und Romanow, der Bevollmächtigte.

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